Lehrerzimmer
dem, was uns durch die Hierarchien im chaoslosen Raum geboten werde, während auf Bali… Ja, unterbrach ihn Josef, es stimmt. Und bekam plötzlich leuchtende Augen. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte zu viel getrunken, dann aber stand er auf, hielt sich kurz am Tisch fest, stand aber ohne zu wanken da und sagte in feierlichem Tonfall, dass jetzt, hier und heute, der Augenblick gekommen sei, zur Tat zu schreiten. Pascal und Renner
starrten zu Jensen hoch und sagten, was soll das, lass das, setz dich wieder hin, wir… Nein, sagte Josef Jensen. Nun, zu viert, mit unserem neuen Verbündeten an der Seite, hier, heute, wolle er den feierlichen Schwur leisten… Hör auf, sagte Renner, wir sind doch nicht auf Bali… Den feierlichen
Schwur, sagte Josef, dass er fortan der Kraft der Rede Taten folgen lassen wolle, dass er fortan nicht mehr untätig mit ansehen wolle, wie alles von uns Ausgesprochene unausgelebt im Hinterzimmer des Stuttgarter Ratskellers zerschelle, dass er fortan in den Kampf ziehen und sich dem System in all seinen teuflischen Ausprägungen stellen wolle. Dann setzte er sich wieder und sah in die Runde. Pascal und Renner schwiegen einen Augenblick lang. Das kannst du nicht tun, sagte Achim dann. Na ja, sagte Josef und trank einen Schluck, ich will ja keine Bombe werfen. Sondern? fragte ich. Politik der kleinen Nadelstiche, sagte Josef. Was soll denn das heißen? fragte Pascal. Ihr werdet sehen, sagte Josef Jensen, während die Bedienung übermüdet den Raum betrat und sagte, es sei fünf Uhr und sie wolle nach Hause.
Wir standen auf und torkelten hinaus. Fahren überhaupt noch U-Bahnen? fragte ich. Keine Ahnung, sagte Renner, aber er könne jetzt sowieso nicht mehr ins Bett, er kenne ein Café in der Nähe, das schon offen sei und wo man sich bei drei Kannen Kaffee auf den nächsten Schultag vorbereiten könne.
Das sei eine gute Idee, sagte Pascal, und ich schloss mich den dreien an, während mich das Gefühl beschlich, irgendetwas vergessen zu haben. Was das war, merkte ich erst, als wir schwer und noch stinkend vom Alkohol um halb sieben im Zug saßen. Meine Tasche, sagte ich. Was für ‘ne Tasche?
fragte Renner. Meine Schultasche, sagte ich. Ja und? fragte Pascal. Wie, ja und? fragte ich zurück. Wozu brauchst du eine Schultasche? fragte er. Da sind, sagte ich, meine sämtlichen Vorbereitungen drin. Pascal winkte ab. Er, sagte Pascal, habe noch nie eine Schulstunde vorbereitet, er verlasse sich ganz auf seine ureigenste Intuition. Vorbereitung, sagte er, töte die Spontaneität. Bereite er eine Stunde vor, könne er nicht mehr ganz und echt und nah bei den Schülern sein. Die Philosophie und auch die Religion, wie er sie verstehe, beruhten aber ganz und gar auf der Voraussetzung, voraussetzungslos an die Schüler heranzutreten, ohne irgendeinen vorab gegliederten Gedanken sich ganz und gar auf die Schüler einzulassen. Das beste Tafelbild sei jenes, das im spontan geführten Gespräch entstehe, ein Tafelbild, das sich am Ende der Schulstunde als völlig verkorkst herausstelle und ohne jedes Schuldgefühl ausgewischt werden könne. Holzwege, sagte Pascal, seien die wahren Wege der Philosophie, nur auf Holzwegen lerne der Mensch allererst zu gehen und außerdem zu entscheiden, welche Richtung wirklich einzuschlagen sei. Er, fuhr Pascal fort, beginne jede Stunde regelmäßig mit der an die Schüler gerichteten Frage, was gerade in ihnen vorgehe, was sie umtreibe, wo sie stünden, wo er sie abholen könne, was in ihrem Innersten sie gerade bewege, und von den Antworten der Schüler ausgehend entwickle er die Stunde im Augenblick des ad hoc, in der Immanenz des Moments. Ich wandte ein, dass diese Technik bei der Fremdsprachenvermittlung wohl kaum gelingen könne. Achim Renner gähnte und sagte,
Schwellendidaktik. Was? fragte ich. Schwellendidaktik, wiederholte Renner. Wichtigste Fähigkeit eines jeden Lehrers.
Und was heißt das? fragte ich. Dass du die Stunde in dem Moment vorbereitest, sagte Renner, in dem du über die
Schwelle ins Klassenzimmer trittst. Ach so, sagte ich, aber ich hab ja nicht mal die Bücher dabei. Die kannst du doch
ausleihen, sagte Renner, in der Bibliothek. Ich blickte hinüber zu Josef, der die Augenbrauen hob und mit den Schultern zuckte.
9
In der Schule betrat ich zunächst die Toilette und wusch mir Gesicht und Nacken. Um mich abzutrocknen, musste ich eine sich selbst fressende Handtuchmaschine betätigen. An diesem Morgen, um sieben Uhr fünfzehn, hatte
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