Lehrerzimmer
den
Schreibtisch und stellte aufatmend fest, dass ich am nächsten Tag nur drei Stunden zu halten hatte, zwei von ihnen, 9a und 5
a, hatte ich schon vorbereitet, blieb noch eine übrig: 10d.
Minutiös entwarf ich das Stundenverlaufsprogramm. Ich nahm mir die Kritik des Direktors zu Herzen und überlegte mir, mit welcher Frage ich mich in welcher Minute der Stunde an die Schüler wenden, welche möglichen Antworten die Schüler geben und wie ich auf diese Antworten scheinbar spontan reagieren könnte. Ich überlegte mir auch, welche
Assoziationen der Text bei den Schülern auslösen und wie diese Assoziationen sich im Geist der Schüler zu möglichen Vokabelfragen transformieren könnten, Vokabelfragen, die sie mir stellen würden, nicht, weil sie sich für das erfragte Wort interessierten, sondern um mich, mein Wissen und also meine Kompetenz als Lehrer im Ganzen zu überprüfen. Murmeln war eines der Übersetzungsworte, das im Text vorkam, Murmeln, dachte ich, die Schüler könnten von diesem Wort ausgehend nach Murmeltier fragen, ground hog, das war mir bekannt, Murmeltier, Schlaf, Winterschlaf schlug ich nach, von
Winterschlaf könnte man zu Nahrungsmangel gelangen,
Nahrungsmangel oder Nahrungsbeschaffung, schlug ich nach, ferner Horten und Hamstern, schlug ich nach, von
Winterschlaf, dachte ich, könnte aber auch ein direkter Weg zu Winter und von Winter zu Wintersport führen, zu Rennrodeln, Lawinengefahr, Verschüttungen, Bernhardiner, meine Liste wuchs. Um halb acht hatte ich endlich das Gefühl, genügend für alle Unwägbarkeiten der Stunde gerüstet zu sein, und schob meine Unterlagen beiseite. Ich schloss kurz die Augen und malte mir aus, wie einer der Schüler mich nach dem englischen Ausdruck für Lawinengefahr fragen und ich den Begriff aus der Hüfte heraus, locker und ohne Zögern auf den Schüler schießen würde, und als ich meine Schultasche packte,
überlegte ich noch, wie ich die Schüler vom Murmelspiel des Textes auf die Lawinengefahr bringen könnte, falls sie wider Erwarten nicht von selber darauf zu sprechen kamen, sah dann aber auf die Uhr und dachte, Ratskeller, wenn du jetzt losgehst, kommst du noch rechtzeitig.
Drei Lehrer saßen im Hinterzimmer des Ratskellers, dicke Vorhänge vor den Fenstern, Rauch in der Luft, ich stand einen Augenblick an der Tür und sah auf den Tisch, an dem sie saßen, noch hatte mich niemand gesehen, ich erkannte Josef Jensen, und plötzlich überfiel mich das Gefühl, etwas
Verbotenes zu tun, ich drehte mich um, spürte den Drang, wegzugehen oder aber hinter die schweren Vorhänge zu
schauen, ob dort jemand stünde, der es nicht gut mit mir meinte. Da aber hatte mich Josef Jensen schon gesehen, stand auf und winkte mir zu. D’Artagnan, rief er. Ich trat an den Tisch. Jetzt, unter der nackten Glühbirne, erkannte ich einen der beiden anderen Lehrer wieder. Es war die zweite GLK-Gegenstimme, klein, untersetzt, mit grauem Stoppelbart. Ich kramte in meinem Kopf nach seinem Namen. Herr Renner?
fragte ich. Achim Renner, nickte er, Sport, Erdkunde und Psychologie. Der Dritte wurde mir als Pascal vorgestellt, das sei zwar nicht sein richtiger Name, sagte man, aber jeder an der Schule nenne ihn so, Religion, Philosophie, er war fast zwei Meter groß und hatte eine kaum wahrnehmbare,
säuselnde Fistelstimme. Als man mir ein Bier gebracht hatte, ergriffen die drei ihre Gläser, ließen sie über dem Tisch zusammenknallen, ich tat mit, und Achim sagte: Einer für alle, alle für einen. Wir tranken. Es stellte sich heraus, dass die drei den harten Kern der sogenannten KG bildeten, einer
Konspirativen Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das geltende Schulsystem zu unterminieren. Jedoch nicht wirklich, wie man sogleich einschränkte, da man den eigenen
Arbeitsplatz keinesfalls ernsthaft würde aufs Spiel setzen wollen, sondern lediglich, wie man sagte, verbal. Also ein Kreis von Revolutionären, die nichts taten, sondern nur darüber redeten, was sie gern tun würden, sowie darüber, in welchem Zustand sich unser korrumpiertes, über und über marodes Schulsystem eigentlich und jetzt schon befand. Ich fragte Josef, weshalb ich, Martin Kranich, als neuer Lehrer sogleich in diesen Zirkel aufgenommen worden sei, und Josef sagte, dass nicht sie, die Gruppe, entscheide, wer dem Zirkel angehöre, sondern der Direktor. Der Direktor? fragte ich. Es gebe da eine Liste, sagte Josef, auf die Höllinger ab und zu den einen oder anderen Lehrer setze, aus den
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