Lehrerzimmer
zugänglich zu machen, er wolle wissen, wo sich die
GEW-Anschläge befänden, wo die des
Philologenverbandes, wo man die Elternbeiratsbestimmungen finden könne, wo das Schulgesetz, wo die vorgefertigten Formulierungen zur Erstellung der Kopfnoten in der
Unterstufe, wo den Belegungsplan für die beiden Videoräume, wo die Liste für die Themenvorschläge des Pädagogischen Tages, wo die Klassenkonferenz- und Fachkonferenzlisten zur kenntnisnehmenden Abzeichnung für die beteiligten Lehrer, wo
das Protokoll der letzten Schulkonferenz und
Gemeinderatssitzung, wo das Adressverzeichnis der
Angestellten, wo das Ringbuch mit den jeweiligen
Stundenplänen der Lehrer… Höllinger fragte einige Minuten so weiter, und die meisten Fragen konnte ich zu seiner Zufriedenheit beantworten. Er hatte eine Liste vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, auf der ich mir im Falle einer positiven Beantwortung einen Haken plus zustimmendes Nicken
einhandelte, im Falle eines Nichtwissens jedoch einen Strich.
Dann lehnte er sich zurück, und ich atmete auf, da ich glaubte, die Überprüfung sei beendet. Er zählte kurz nach, sagte dann, drei Striche, das sei eine durchaus ordentliche Leistung, wenngleich er sich die allerwichtigste Frage für den Schluss aufgehoben habe. Ich sammelte die letzten Reste meiner Spucke im Mund und sah ihn erwartungsvoll an. Er fragte mich, wo sich die Karteischränke mit den Vornoten der Schüler befänden. Ich schwieg. Ob ich das wisse? Ich verneinte. Höllinger schüttelte den Kopf. Diese jungen Lehrer, sagte er, kämen an seine Schule und dächten, sie könnten ganz von vorn anfangen. Dächten, sie bräuchten sich nicht zu scheren um das, was vor ihnen gewesen sei. Ich, Kranich, sagte Höllinger, sei nur ein winziger Teil im ganzen Großen. Das Orchester habe lange vor mir zu spielen begonnen. Ich sei hinzugekommen und könne froh sein, dass ich mich setzen und ab und zu einmal einen Ton zum Gelingen beisteuern dürfe.
Die Vornoten, sagte er, seien das Rückgrat eines jeden Neuanfängers, und ich, Kranich, wüsste nicht einmal, wo sich die Karteischränke mit den Vornoten befänden. Wie wolle ich da wissen, wie gut oder schlecht die Schüler seien? Ich könnte ja ohne Kenntnis der Vornoten zu völlig anderen Ergebnissen kommen als mein Vorgänger. Abweichungen, sagte Höllinger, Abweichungen seien nur in begrenztem und durch
Verwaltungsvorschriften geregeltem Maße erlaubt. Letztlich würden die Abiturnoten der Schüler schon in der fünften Klasse festgelegt. Man müsse sich nur die Statistiken
anschauen. Wer in der fünften Klasse schon einen Schnitt von 1,2 habe, der werde auch das Abitur mit annähernd 1,2
ablegen. Ich verlange, sagte Höllinger, dass Sie mir morgen in der sechsten Stunde ausführliche Beweise Ihrer Kenntnis der Vornoten vorlegen, kopieren Sie sich die Akten und lernen Sie sie auswendig. Das ist in Ihrem eigenen Interesse. So können Sie keine Fehler bei der Beurteilung von Schülern machen, und wenn Sie keine Fehler bei der Beurteilung von Schülern machen, werden auch keine Eltern versuchen, Sie in die Enge zu treiben, und Sie ersparen sich einen Haufen juristischer Quälereien. Ich nickte und versuchte mir alles genau zu merken. Dann machte Höllinger eine mir gewichtig und
schwer erscheinende Pause. Das sei ein ganz schöner Bock, sagte Höllinger, den ich da geschossen hätte, nicht zu wissen, wo sich die Vornoten befänden. Aber er wolle den Mantel des Schweigens über meine Fehlleistung decken, vorausgesetzt –
hier rückte er an seinem Schreibtisch ein wenig näher zu mir hin – vorausgesetzt, sagte er, ich wolle ihm auch ein wenig entgegenkommen. Natürlich, sagte ich froh, gern, alles, was er wolle. Er schwieg einen Augenblick, schien sich noch nicht ganz schlüssig zu sein, dann aber gab er sich einen Ruck, schloss eine Schublade seines Schreibtischs auf, entnahm ein Schriftstück und sagte mir, er habe vor, mich zu seinem zweiten diesjährigen Geheimen Sicherheitsbeamten zu
machen. Er sah mich an. Ich sackte zusammen wie ein
Kartenhaus. Er habe bislang immer nur einen einzigen Lehrer für diesen Dienst bestimmt, aber schon lange an dem Plan gefeilt, einen zweiten GSB auf das Kollegium loszulassen.
Nähme ich das Amt an, so wolle er nicht mehr über all meine Verfehlungen, die ich mir bereits zu diesem frühen Zeitpunkt im Schuljahr geleistet hätte, sprechen. Er wolle sie vergessen.
So tun, als hätte ich mich immer tadellos verhalten. Das, sagte er, wäre als
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