Lehrerzimmer
Nicht mal die Hände gewaschen, Kranich.
Ich hastete den Gang zurück ins Lehrerzimmer, auf dem mir, ich sah ihn schon von weitem, Josef Jensen entgegenkam. Es lag ein siegesgewisses Lächeln auf seinen Lippen, und als wir aneinander vorbeigingen, raunte er mir zu, die Bombe tickt. Im Lehrerzimmer sah ich, dass Pascal immer noch auf dem Sofa saß, ihm gegenüber ein Mann in Schwarz. Es klingelte. Neben Pascal stand ein Korb mit weinroten Schulbibeln. Pascal hob den Korb hoch, es war, als nähme er ein Kreuz auf seine Schultern, und ohne mich wahrzunehmen, verließ er, gefolgt vom Domkapitular, das Lehrerzimmer. Ich drück dir die
Daumen, sagte ich, aber er reagierte nicht. So ging ich ins Sekretariat, holte aus dem dort befindlichen Karteischrank die Personalakten meiner sämtlichen Schüler und schlug den Weg zum Kopierer ein. Um den Kopierer herum drängelten sich sechs oder sieben Lehrer, in ihrer Mitte Kleible, eine Dose Toner in den schwarz verschmierten Händen. Gleich,
versuchte Kleible die Lehrer zu beruhigen, es kann sich nur noch um Minuten handeln. Ich zögerte einen Augenblick, warf mir dann meine Jacke über, verließ die Schule, ging in die Stadt, fragte nach einem Copy-Shop, kopierte meine Akten, zahlte, kehrte wieder um, brachte die Akten zurück und erntete dabei ein wohlwollendes Nicken des Direktors, der gerade im Sekretariat stand und die Sekretärinnen bei der Arbeit beobachtete.
12
Es blieben zwanzig Minuten, ehe wir uns alle zum
obligatorisch am Schuljahresanfang aufzunehmenden
Gruppenfoto vor dem für den Lichteinfall um diese Uhrzeit günstigen Westeingang zu versammeln hatten. Ich kam aber nicht dazu, einen Blick in meine kopierten Akten zu werfen, da sich eine Lehrerin neben mich setzte, ganz in Grau, Mitte fünfzig, ihre Bewegungen hatten etwas Ruckartiges, Strenges, sie reichte mir die Hand und sagte, Kniemann, Geschichte, Latein, Griechisch und Ethik. Und Ethik? fragte ich. Und Ethik, sagte sie. Ich sagte, Kr… Sie wisse Bescheid,
unterbrach sie mich, Kranich, Englisch, Deutsch, sie,
Kniemann, studiere immer die Akten der Neuankömmlinge, noch ehe diese an der Schule eingetroffen seien. Man müsse alles wissen, man dürfe nie unvorbereitet einer Situation entgegengehen, als Lehrer schon gar nicht. Für die Schüler sei man der Quell des Wissens. Sie hätten vor Ehrfurcht zu erstarren, die Schüler, vor der Autorität der Bildung, vor der Überlegenheit des Lehrerintellekts. Dann sah sie sich in alle Richtungen um und flüsterte plötzlich, ein wenig näher rückend: Herr Kranich, fragen Sie mich. Ich sagte, wie bitte?
Fragen Sie mich, ich bitte Sie, irgendwas Geschichtliches, egal was, fragen Sie mich, machen Sie schon, kommen Sie,
Kranich. Ich brauchte einige Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen, und stammelte dann, also gut, wie Sie wollen: Wann wurde Rom erbaut, also, ich meine, gegründet? Nein, rief Kniemann, Kranich, konzentrieren Sie sich, ich meine Fragen, richtige Fragen, schwierige Fragen, Fragen, die niemand wissen kann, der nicht alles weiß, na los, machen Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit. Ich dachte fieberhaft nach und fragte sie, wer der erste Außenminister der
Bundesrepublik gewesen sei. So wird das nichts, sagte sie und zog ein Oberstufengeschichtsbuch aus ihrer Schultasche. Los, Kranich, schlagen Sie nach, schlagen Sie irgendeine Seite auf und fragen Sie mich. Ich öffnete das Buch und fragte, wie lang die Siegfriedlinie sei. Ja, sagte sie, endlich lächelnd, ja, Kranich, 400 Kilometer, sie schloss die Augen, rund 400
Kilometer, vielleicht länger, noch länger, eigentlich Westwall, sagte sie, zwischen Mai 3 8 und August 39 erbaut, von Aachen bis Basel, rund 15.000 Bunkeranlagen. Weiter, Kranich, machen Sie weiter, hören Sie nicht auf. Ich fragte sie nach dem Wormser Konkordat. Gut so, sagte Kniemann, 23. September 1122, zwischen Heinrich dem Fünften und Calixt dem
Zweiten. Weiter. Josephus Flavius? Zu flach, Kranich, tiefer, Kranich, tiefer. Ich fragte ungefähr fünf Minuten lang, begann schließlich Fragen zu erfinden, Kniemann schien Napoleons Schuhgröße zu kennen, ich konnte es nicht kontrollieren, sie kannte die Haarfarbe des Sonnenkönigs (unter der Perücke), die Konfektionsgrößen von Lenin und Friedrich dem Großen, sie wusste, wie viele Instrumente Ludwig Erhard spielen konnte und um wie viel Uhr die Marseillaise komponiert worden war. Erst als ich sie nach der Dioptrienzahl von Franz-Josef Strauß fragte, erbleichte sie. Sie nahm
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