Lehrerzimmer
mir leicht verärgert, wie es schien, das Buch aus der Hand, stand auf und ging an ihren Platz. Ich konnte nicht verfolgen, was sie nun tat, da in diesem Augenblick eine kleine, bebrillte, noch junge Lehrerin auf mich zustürzte. Ob ich wahnsinnig sei? schrie sie mich an. Was denn? fragte ich verwirrt. Wie ich die Frechheit haben könne, ein schwarzes Hemd zu tragen? Ich verstand sie nicht. Hilde Bräunle ihr Name, Deutsch, Französisch. Kranich, sagte ich… Sie sei die Lehrerfotokoordinatorin. Ob ich ihren Brief nicht bekommen hätte? Welchen Brief? fragte ich. Den Brief, auf dem schwarz auf weiß stünde, in welcher Kleidung ich am heutigen Dienstag zum Unterricht zu erscheinen habe.
Nein, sagte ich, ich hätte keinen Brief bekommen. Auch das noch, sagte sie und reichte mir eine Liste. Hier, sagte sie, steht es, deutlich lesbar, Kranich – helles Oberteil. Ich sagte, ich verstünde nicht… Der Fotograf, sagte sie, kann nur dann ein Foto machen, wenn die Lehrer in abwechselnd dunklen und hellen Oberteilen nebeneinander stehen. Der Kontrast, Sie wissen schon. Seit Jahren habe sie, Hilde Bräunle, die Aufgabe übernommen, den Lehrern in einem Brief mitzuteilen, in welcher Kleidung sie am Tag der Ablichtung aufzutauchen hätten, eine nicht einfache Koordinationsleistung, da sie die verschiedensten Dinge zu berücksichtigen hätte: Manche Lehrer weigerten sich schlichtweg, außerhalb von
Beerdigungsveranstaltungen Schwarz zu tragen, andere hätten keine hellen Kleidungsstücke in ihrer Garderobe, daneben müsse sie die Größe der Lehrer berücksichtigen, also die Tatsache, wer letztlich wo in welcher Reihe platziert werden könne, ohne einen kleineren Lehrer zu verdecken. Stundenlang säße sie an diesem Plan. Vom Verschicken der Briefe einmal abgesehen. Und jetzt besäße ich die Frechheit, ihr Werk zu vernichten. Es sei undenkbar, dass der Fotograf auf den Auslöser drücke, wenn drei dunkel bekleidete Lehrer
nebeneinander stünden. Ich nickte. Was man da tun könne?
fragte ich. Frau Bräunle setzte sich und wurde ruhiger. Also, sagte sie, sie sehe da drei Möglichkeiten. Welche? fragte ich.
Entweder ich ließe mich mit nacktem Oberkörper
fotografieren. Nein, sagte ich sofort, das komme nicht in Frage. Oder aber, fuhr Bräunle fort, ich verzichtete auf das Foto. Und die dritte Möglichkeit? fragte ich. Irgendein Lehrer, antwortete Hilde Bräunle, müsse zufällig ein zweites helles Oberteil dabeihaben, das er mir ausleihen könne. Gut, sagte ich, ich würde mich umhören. Da schellte es schon, es war ein Uhr, ich stand auf und fragte alle mir entgegenkommenden Lehrer nach einem zweiten hellen Oberteil, niemand konnte mir helfen, nur Achim Renner sagte, er habe eine Idee. Er lief fort und kam gerade noch rechtzeitig mit einem gelben
Sportleibchen aus der Turnhalle zurück, welches ich mir zum Westeingang laufend überwarf, ehe ich keuchend auf das Klicken des Fotografen wartete und gleichzeitig merkte, dass der ganze aufgestaute Druck meines Magens nun in meinen Därmen rumorte, ich erinnerte mich an die abgebrochene Sitzung auf der Lehrertoilette und hoffte, dass der Fotograf sich beeilen würde, was jedoch nicht der Fall war. Erst nach zehn Minuten wurden wir entlassen, und ich stürzte im gelben Sportleibchen zur Toilette.
Als ich nach geraumer Zeit die Toilette verließ, war es schon reichlich still im Schulhaus. Ich suchte nach Pascal, konnte ihn aber nirgends finden. Er war nicht mal zum Fototermin
erschienen. Das beunruhigte mich. So packte ich schließlich meine kopierten Schülerakten ein und verließ die Schule, lief durch die Unterführung, der Mann am Akkordeon war nicht da, und ich fuhr zurück nach Stuttgart. Im Zug fand ich eine Göppinger Tageszeitung, aus der ich einige
Wohnungsangebote herausriss. Zu Hause aß ich irgendetwas, das in meinem Kühlschrank vor sich hin gammelte, legte während des Essens die Akten meiner Schüler auf den
Küchentisch und begann, die Vornoten auswendig zu lernen.
Mehr als einmal wären mir beinah die Augen zugefallen, aber ich riss mich zusammen. Gegen acht hatte ich die Noten sattelfest im Kopf und ging daran, meine Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich werde es gewissenhaft tun, sagte ich mir, und es war zwei Uhr morgens, als ich endlich vom Schreibtisch aufstand. Ich war am Ende meiner Kräfte, schaffte es aber noch, mein Geschichtsbuch hervorzukramen, zwölf knifflige Fragen aufzuschreiben und in die Tasche zu schieben, um für weitere
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