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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orth
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in die Herrentoilette. Er öffnete die
    Kabinentüren, warf einen kontrollierenden Blick hinein, strich prüfend mit den Händen über die Kanten der Kabinen und den Wandvorsprung, fasste unter das Waschbecken, kniete sich hin, legte sein Ohr auf den Boden, horchte einige Sekunden lang, stand auf und flüsterte endlich, hier ist der einzige Ort, an dem man halbwegs sicher reden kann, hör zu. Josef holte Luft und sagte langsam und jedes Wort deutlich betonend: Sag nie wieder irgendetwas gegen den Direktor im Lehrerzimmer. Man weiß nie, fuhr Josef fort, wer einem gegenübersitzt. Alles, was du im Lehrerzimmer sagst, kommt irgendwann zu Höllinger.
    Er verfügt über ein lückenlos ausgetüfteltes Agenten- und Doppelagentensystem innerhalb des Lehrkörpers. Also
    Vorsicht, schloss Josef, und Augen auf. Dann sagte er, ich solle noch eine Minute warten, ehe ich ihm ins Lehrerzimmer folgte, und ließ mich allein. Matt lehnte ich mich an den Heizkörper und starrte vor mich hin. Mit einem Ruck drehte ich mich plötzlich zum Handtuchspender um. Ein benutztes Stück Handtuch grinste mir ekelhaft feucht aus der weißen Box entgegen.

    10

    Ich kam rechtzeitig zum Klingeln ins Lehrerzimmer und wurde von einem seine Zähne bleckenden Linnemann begrüßt.
    Kranich, sagte er, Sie sollen nach der nächsten Stunde zum Direktor kommen, das wurde gerade durchgegeben. Ich
    erschrak, tastete meine Hosentasche ab und stellte erleichtert fest, dass mein Schlüssel noch da war. Ich blickte mich um.
    Josef und Achim waren bereits verschwunden. Pascal saß noch auf dem Sofa. Ich setzte mich kurz und fragte ihn, ob er eine Ahnung hätte, weshalb mich Höllinger zu sich zitiert haben könnte. Er zuckte mit den Schultern und sah teilnahmslos vor sich hin. Was denn los sei? fragte ich ihn. Unterrichtsbesuch, sagte er. Wie? fragte ich, jetzt? Am zweiten Schultag? Vom Oberschulamt? Er schüttelte den Kopf. Domkapitular, sagte er.
    Kirche. Es gehe um die Missio. Um die Missio? fragte ich.
    Eltern hätten sich über ihn und seinen Religionsunterricht beschwert, sagte Pascal. Er würde zu wenig Bibel machen.
    Und jetzt der Domkapitular. Kontrollbesuch. Eben erst
    angekündigt. Sechste Stunde. Er habe keine Ahnung, was er da machen solle. Ich sah ihn an. Er saß bleich und zitternd auf dem Sofa. Wenn man ihm die Missio entziehe, fragte er, was solle er dann tun? Nie wieder, sagte er, wolle er sein Wort oder seine Hand gegen das heilige Schulsystem erheben. Er bereue zutiefst seine widerwärtigen Anwandlungen. Ohne die Missio, sagte er, sei er ein Nichts. Die Missio mache ihn allererst zu dem, was er wirklich sei, ein ganzer Mensch, ein runder, ein fertiger Mensch, ein Mensch mit Arbeit und Geld zum Leben.
    Pascal war immer lebhafter geworden und hatte sich bei den letzten Worten regelrecht an mich gekrallt. Jetzt starrte er mich wirr und mit flackernden Augen an. Ich müsse jetzt gehen, sagte ich, ich sei sowieso schon fünf Minuten zu spät. Ich riss mich los, schnappte mir mein Buch und lief zum
    Klassenzimmer. Ich war so verwirrt, dass mir jedwede
    Konzentration abging. Wie konnte ich Pascal helfen? dachte ich. Und was wollte der Direktor von mir? Auch machte sich erstmals an diesem Tag große Müdigkeit in mir breit, ich merkte, dass ich in der Nacht keine Sekunde geschlafen hatte, und die Stunde lief völlig an mir vorbei. Die zweisprachig aufgewachsenen Schüler der
    10d kamen mit dem
    Kopfschütteln und dem Aufschreiben der Fehler gar nicht mehr mit. Als ich einmal nach avoid kein gerund verwendete, biss sich einer von ihnen auf die Zunge, ein anderer zog die Luft durch die Zähne, ein Dritter stöhnte schmerzhaft auf und ließ vor Schreck den Stift fallen, als hätte er sich an ihm verbrannt. Erst als mich einer der Schüler nach dem englischen Wort für Lawinengefahr fragte, hellte sich meine Miene auf, Lawinengefahr, sagte ich und stolzierte dozierend vor den Schülern auf und ab, Lawinengefahr, nichts leichter als das, sagte ich, Lawinengefahr sei ein Wort, das sicherlich kaum einem Englischlehrer im Kollegium ad hoc bekannt sein dürfte, woran sie, die Schüler, sähen, was für ein Glück sie hätten, mich als Lehrer bekommen zu haben, Lawinengefahr, sagte ich und schluckte, einen Moment noch, sagte ich, ich sehe es vor mir, sagte ich, es liegt mir schon auf der Zunge, einen Moment noch, gleich. Die Schüler sahen mich
    aufmunternd an. Es steht mir greifbar vor Augen, sagte ich, gestern wusste ich es noch, ganz sicher, Sie müssen mir

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