Lehrerzimmer
und habe wissen wollen, weshalb sie,
Kniemann, dies interessiere. Kniemann habe es ihr erklärt.
Daraufhin habe die Straußtochter gesagt, es tue ihr Leid, sie könne die Frage nicht beantworten, ihr Vater habe nie eine Brille getragen, seine Augen seien bis zum Schluss
vollkommen in Ordnung gewesen. Da habe sie, Kniemann,
gesagt, das sei nicht möglich, man habe ihr, Kniemann, eine Frage gestellt, die Frage habe sich auf die Dioptrienzahl Franz-Josef Strauß’ bezogen, die Frage sei von einem Lehrer gestellt worden, also müsse sie beantwortbar sein. Die Straußtochter aber habe beteuert, dass es sich so verhalte, wie sie gesagt habe, und Kniemann habe unverrichteter Dinge auflegen
müssen. Und das solle ich, Kranich, mir ein für alle Mal hinter die Ohren schreiben: Nie wieder, sagte Kniemann und
wiederholte diese Worte, nie wieder solle ich eine Frage stellen, die unbeantwortbar sei. Immer, schloss Kniemann, und sie meißelte mir dieses Wort regelrecht in die Stirn, immer hätte ich meine Fragen daraufhin zu überprüfen, ob man sie beantworten könne. Eine Frage, die man nicht beantworten könne, sei keine Frage, sei eine Missgeburt, ein Hohn an jeden Befragten, eine Unverschämtheit. Sie habe meine Schüler vor mir schützen wollen und keine Sekunde länger warten können, mir dies mitzuteilen. Ich entschuldigte mich bei ihr und fragte, ob ich jetzt gehen könne. Als sie finster blickend nickte, fragte ich sie noch, ob sie mir statt der Strauß’schen Dioptrienzahl etwas über Karl den Kahlen sagen könne. Natürlich, Kranich, sagte sie und ihre Miene hellte sich ein wenig auf, Karl der Kahle, sagte sie, geboren in Frankfurt am Main, 13. Juni 823, gestorben in Avrieux, 6. Oktober 877, Karl bekämpfte im Bündnis mit Ludwig dem Deutschen Kaiser Lothar den Ersten.
Ich trat auf den Gang, holte meinen gestern Nacht
geschriebenen Zettel aus der Tasche und fragte, Verdun?
Verdun, sagte Kniemann und folgte mir, 843, Vertrag, das Westfränkische Reich. Ich stand inzwischen vor dem
Klassenzimmer und legte die Hand an die Klinke. Lothringen?
fragte ich. Lothringen, sagte Kniemann, 869 besetzt, aber er musste es teilen, der Kahle, mit Ludwig dem Deutschen. Mehr hörte ich nicht.
14
Durch diesen Zwischenfall war ich zehn Minuten zu spät gekommen, musste die Stunde aber, laut Direktionsorder, fünf Minuten eher beenden, was ich auch geflissentlich tat. Dann ging ich zu den anderen Lehrern ins Lehrerzimmer und
wartete. Der Direktor betrat den Raum. Hinter ihm Bassel. Die Lehrer standen alle aus einem inneren Impuls heraus auf.
Setzen, sagte der Direktor. Man setzte sich. Ich blieb mit den anderen Neuen an der Wand am Eingang stehen. Es hätten sich, begann der Direktor, subversive Elemente in dieses Kollegium eingenistet, die er nicht übel Lust hätte, mitsamt Wurzel auszureißen. Wurzeldenken, raunte mir Renner zu, hab ich nicht gesagt? Er, Höllinger, habe am gestrigen Tag einen Tadelanruf vom Oberschulamt bekommen. Noch nie habe er in seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere vom Unterreferendar bis zum Oberstudiendirektor einen Tadelanruf vom
Oberschulamt bekommen. Erst jetzt, gestern, zum ersten Mal.
Und weshalb? Er machte eine gewichtige Pause. Es habe eine Beschwerde gegeben. Die Lehrer husteten. Von außerhalb, sagte Höllinger. Stille. Von Frau Direktorin Doktor Wirtz.
Tuscheln und Füßescharren. Sie alle kennen Frau Direktorin Doktor Wirtz und wissen, was für ein Mensch sie ist, sagte Höllinger. Sie hat sich darüber beschwert, dass ich in Konferenzen ihre Schule verunglimpfe. Der Direktor trank etwas von dem Wasser, das Bassel ihm eingeschenkt hatte, und räusperte sich. Frau Direktorin Doktor Wirtz, sagte Höllinger, sei zu Ohren gekommen, dass er, Höllinger, sich despektierlich über ihr Gymnasium, das KNOGY, geäußert hätte. Sie habe dem Oberschulamt mitgeteilt, er, Höllinger, hätte in der Schuljahreseröffnungskonferenz dem Göppinger Kollegen
Kracht zum Vorwurf gemacht, sein Abitur am KNOGY
absolviert zu haben, statt, wie es sich für einen guten Göppinger gehöre, am ERG. Das Rumoren im Lehrerzimmer wurde lauter, man sah sich gegenseitig an, nur Josef Jensen saß ruhig auf seinem Stuhl und strahlte von innen heraus. Sie wissen alle, was das bedeutet, sagte Höllinger. Wir haben einen Maulwurf im Kollegium, Nun wuchs die Unruhe unter den Lehrern, und erste Rufe wurden laut, wer das sei, eine Unerhörtheit, der solle sich melden, sofort, Frechheit, Interna ausplaudern, noch
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