Lehrerzimmer
sich im Kreis um. Als Einstieg, begann er, habe er die Kinder vorbeten lassen, zehn Minuten lang, sämtliche Gebete, an die er, Pascal, sich noch vage habe erinnern können, er habe strengstens auf das korrekte Aussprechen der Gebete geachtet, Dein Reich komme, habe er die Kinder verbessert, komme, nicht kommt, Konjunktiv I, habe er gesagt, Dein Wille geschehe, geschehe, nicht geschieht. Wer den Konjunktiv II von geschehen kenne? habe er die Kinder gefragt. Wer das Ganze durchkonjugieren könne? Wer wisse, was gebenedeit bedeute? Wer ein Synonym für gebenedeit kenne? Nach dieser Einstiegsphase habe er die Bibeln auspacken und die Kinder abwechselnd Bibelstellen vorlesen lassen. Dreißig Minuten lang. Das sei alles gewesen. Am Ende habe er noch ein
Abschlussgebet gesprochen und den Domkapitular um seinen Segen gebeten, den er, Pascal, und die gesamte Klasse kniend entgegengenommen hätten. Gerade der letzte Akt der Stunde habe beim Domkapitular einen nachhaltigen Eindruck
hinterlassen. Pascal und der Domkapitular hätten sich
anschließend zur Besprechung der Stunde in ein leeres
Klassenzimmer zurückgezogen, doch in dem Augenblick, da der Domkapitular mit seiner Detailkritik an der Stunde habe beginnen wollen, habe er, Pascal, gesagt, er wolle sich ganz dem weisen Urteil des Domkapitulars beugen und die kostbare Zeit der kommenden fünfundvierzig Minuten nicht mit
überflüssigen Worten verstreichen lassen, sondern lieber mit ihm, dem Domkapitular, gemeinsam wachen und beten. Der Domkapitular habe genickt und nicht nur die verbliebenen fünfundvierzig Minuten gebetet, sondern Pascal anschließend eingeladen, mit ihm in die Christuskirche zu gehen, wo beide die Nacht über in schweigender Meditation ausgeharrt hätten.
Auf seine, Pascals, bange Frage, ob man ihm nun die Missio entziehen werde, habe der Domkapitular entgegnet, dass nie ein Lehrer würdiger dieses Wort getragen habe als er, Pascal.
Wir applaudierten. Dann klingelte es, und als wir alle in die zweite Schulstunde dieses Tages gehen wollten, hörten wir aus dem Lehrerzimmerlautsprecher die Stimme des Direktors, die kalt und leer klang. Er sagte, er rufe alle Lehrer nach dem Ende der zweiten Stunde zu einer außerplanmäßigen Kurzkonferenz zusammen. Um ein pünktliches Erscheinen zu gewährleisten, sei die folgende Stunde einheitlich fünf Minuten vor dem regulären Ablauf zu beenden. Schweigend gingen die Lehrer in ihre Klassen. Josef überholte mich mit gertenartigen Schritten, und ich sah, wie er hinter seinem Rücken den Daumen der rechten Hand hob.
Um den Klassenraum meiner fünften Klasse zu erreichen, musste ich am Beratungszimmer vorbei, dessen Tür plötzlich ruckartig aufsprang. Kranich! hörte ich eine Stimme. Ich erkannte im Schatten des Zimmers Frau Kniemann. Ja? fragte ich. Kommen Sie rein, sagte Kniemann. Ich sagte, ich hätte jetzt Unterricht… Das wisse sie, aber sie habe mir wichtige Dinge mitzuteilen. Ich ging hinein und schloss die Tür.
Beantworte!, war ihr erstes Wort, das sie mir entgegenzischte.
Ich, Kranich, hätte die Todsünde eines jeden Lehrers
begangen. Eine unverzeihliche Ungeheuerlichkeit. Sie,
Kniemann, habe am gestrigen Tag drei Stunden am Telefon verbracht. Zunächst habe sie einen Freund angerufen,
Parteimitglied der CDU. Der habe nichts gewusst und sie weiterverbunden an ein Parteimitglied der CSU. Der wiederum habe sie genauestens ausgehorcht. Als er erfahren habe, dass es ihr, Kniemann, um die Dioptrienzahl seines ehemaligen
Landesvaters gegangen sei, habe er sie in gröbsten Worten beschimpft. Das lasse er nicht zu, habe er gesagt. Immer wieder würden Menschen versuchen, das Andenken des
größten bayrischen Staatsmannes des 20. Jahrhunderts zu besudeln. Wutentbrannt habe er aufgelegt. Da habe sie wieder ihren Parteifreund bei der CDU anrufen müssen, der sie nacheinander verbunden habe an drei weitere CSUler. Zwei hätten ihr nicht helfen können, beim Dritten habe sie, Kniemann, sich als Wissenschaftliche Assistentin der
Universität Bamberg ausgegeben, die ihre Doktorarbeit über die Bedeutung des Strauß’schen Gedankenguts für eine umfassende Reform der Politik der Gegenwart verfasse und aus diesem Grund einige persönliche Fragen an die
Straußtochter zu richten habe. Da, sagte Kniemann, habe sie die Nummer bekommen. Sofort habe sie, Kniemann, die
Straußtochter angerufen und nach der Dioptrienzahl des Vaters gefragt. Die Straußtochter sei ein wenig amüsiert gewesen von Kniemanns Frage
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