Lehrerzimmer
Direktor aus der Bibliothek. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich eine Blume ins Rockloch gesteckt und setzte sich gesenkten Hauptes. Seine Stimme klang heiser. Er wolle den Maulwurf bitten , sagte er nun, und alle wurden still, er wolle den Maulwurf bitten, sich zu erkennen zu geben. Er, Höllinger, habe alles versucht. Es sei ein Uhr, wir alle hätten Hunger. Er verspreche, dass dem Maulwurf nichts geschehen werde. Er sichere dem Maulwurf hier und jetzt, in der GLK , vor über siebzig Zeugen, absolute Straffreiheit zu. Nichts regte sich im Kollegium. Der Direktor rang nach Atem. Mit einem Schlucken im Hals fuhr er fort. Wie er denn jetzt dastünde? Vorm Oberschulamt? Ein Direktor, der nicht in der Lage sei, einen in seinem Lehrkörper sich tummelnden Maulwurf zu enttarnen? Ein unfähiger, ein gescheiterter Direktor. Er, Höllinger, habe strikte Order, bis um sechzehn Uhr des heutigen Tages den Namen des Maulwurfs ans Oberschulamt weiterzuleiten. Andernfalls – hier schwieg er und strich sich mit einem Taschentuch Schweiß aus dem Nacken – andernfalls: Untersuchungskommission. Die Lehrer zuckten zusammen. Wir alle wüssten, was das bedeute, fuhr der Direktor fort. Die Weißen würden kommen. Vormittags Durchleuchtung des gesamten Unterrichts- und Direktionsgeschehens, nachmittags Einzelverhöre. Auch ihn, den Direktor, werde man verhören. Also noch einmal seine Bitte. Immer noch regte sich niemand. Dann, sagte der Direktor, bleibe ihm nichts anderes übrig: Das Los müsse entscheiden. Die Lehrer schwiegen einen Augenblick, murmelten sich dann gegenseitig Mut zu und strichen ihre Hände auf den Hosenbeinen trocken. Bassel reichte die Lehrerliste einem der Oberreferendare, der sie am Laminiergerät neben dem Kopierer sorgfältig in Folie schweißte, dann zerschnitt Bassel die derart verstärkte Lehrerliste zu kleinen Streifen, warf die Streifen einzeln in Gräulichs Hut, den dieser, sooft es ging, trug, um sein Toupet zu verbergen, da er nicht wusste, dass alle schon wussten, dass es eins war. Dann schloss Höllinger die Augen, zog einen Streifen heraus, blickte in die Runde, sagte, der Maulwurf ist … Frau Ammel, wir hörten einen Schrei und sahen die aufgesprungene Frau Ammel totenstarr in Hilde Bräunles Arme fallen. Daraufhin verließ der Direktor das Lehrerzimmer.
Nachdem ich mit einigen Kollegen im Frühlingstau zu Mittag gegessen hatte, saß ich gedankenverloren im Zug nach Stuttgart und wünschte mir nichts sehnlicher als mich in aller Ruhe aufs Bett legen und schlafen zu können. Ich saß in einem Großraumwagen und achtete nicht auf die Menschen, die im Gang an mir vorbeigingen. Als der Zug in Plochingen hielt, warf mir plötzlich einer der Aussteigenden einen Zettel auf den Schoß, auf dem deutlich lesbar stand: Treffen, Bahnhof Stuttgart, 21.00 Uhr . Ich drehte mich um und sah gerade noch, dass eine ganz in Rot gekleidete Person den Großraumwagen verließ und ausstieg. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Der Rote stand mit dem Rücken mir zugekehrt auf dem Bahnsteig und regte sich nicht. Ratlos blickte ich auf den Zettel und wusste nicht, was ich davon zu halten hatte.
In Stuttgart legte ich mich gleich ins Bett. Da an diesem Tag vier Stunden ausgefallen waren, hatte ich den nächsten Tag bereits so gut wie vorbereitet. Als ich erwachte, ich hatte mir keinen Wecker gestellt, war es dunkel. Ich nahm eine Dusche, rauchte drei Zigaretten und verließ um Viertel vor neun das Haus. In der Bahnhofsunterwelt lehnte ich mich gut sichtbar an einen der hinter einer Glaswand aufgestellten Stehtische des Café Marché . Ich rauchte, rieb meinen Fuß am Bein des Stehtisches, fingerte Krümel vom beigen Holztisch und studierte ausführlich jeden Buchstaben der Neonschrift Stuttgarter Hofbräu . Als ich mich nach etwa zehn Minuten umdrehte, stand der Mann im roten Mantel hinter mir, er trug einen Hut und eine Sonnenbrille. Rühren Sie sich nicht, sagte er, schauen Sie an mir vorbei, unterm Tisch steht ein schwarzer Aktenkoffer, wenn ich gleich fort bin, warten Sie noch zehn Minuten, nehmen den Koffer und gehen nach Hause, die Geheimzahl zum Schloss finden Sie im Medienkeller Ihrer Schule, auf der Rückseite des Videofilms The Grapes of Wrath . Dann verschwand er. Ich wartete zehn Minuten, sah währenddessen unruhig vor mich hin und versuchte, mit dem Fuß den Koffer zu ertasten, was mir auch gelang, sodass ich mich nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit elegant und unauffällig
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