Lehtolainen, Leena
Strafanzeige zu erstatten und Pasi zu verlassen, aber meiner Meinung nach habe ich richtig gehandelt. Ich werde auch in Zukunft so vorgehen und bin bereit zu kündigen, wenn meine Handlungsweise nicht akzeptiert wird. Meiner Meinung nach sollte der Schutzhafen aufhören, Probleme unter den Teppich zu kehren.»
Das Verhör, das nun folgte, war achtmal schlimmer als das, was ich auf dem Polizeirevier oder vor Gericht erlebt hatte, aber das machte mir nichts aus. Ich verhaspelte mich nicht und kam nicht ins Stottern, während Pauli anfing herumzubrüllen und völlig die Kontrolle verlor. Schließlich schlug Pastorin Voutilainen vor, eine Arbeitsgruppe mit dem Entwurf neuer Richtlinien zu beauftragen, die im Frühjahr der Generalversammlung vor-gelegt werden sollten. Obwohl Maisa und ich kein Stimmrecht hatten, wurde der Vorschlag mit einer Stimme Mehrheit ange-nommen. Im Siegestaumel ließ ich mich in die Arbeitsgruppe wählen, der außer mir die Pastorin, Pauli, ein Vertreter der Fürsorge und ein Therapeut des kirchlichen Zentrums für Familien-beratung angehörten. Erst als wir nach der Sitzung die Tische abräumten, begriff ich, was ich gerade gemacht hatte.
Ich hatte bewiesen, dass das, was ich in diesem Herbst getan hatte, nicht zu rechtfertigen war. Es gab andere Wege, die Welt zu verändern.
Ich verteidigte mich vor mir selbst mit dem Argument, dass diese Veränderungen, für Sirpa, Tiina und Anja zu spät gekommen wären. Paulis zornige Blicke brachten mir Genugtuung.
Und irgendetwas veranlasste mich, meine Kündigung aufzu-schieben. Ostern war Anfang April, bis dahin hatte die Arbeitsgruppe ihren Entwurf fertig. Wenn ich bis dahin noch durchhielt, dann …
Arme umschlangen mich von hinten, ich nahm Rosen- und Vanilleduft wahr und spürte die Berührung schwerer Brüste am Rücken.
«Danke für deine Unterstützung, Säde», sagte Sanni Voutilainen. «Du bist ein wirklicher Lichtstrahl. Ich hatte befürchtet, wieder nur mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Können wir uns vor dem ersten Treffen der Arbeitsgruppe mal zusam-mensetzen, bei mir zu Hause vielleicht? Es ist leichter, etwas zu-stande zu bringen, wenn man klare Vorschläge hat.»
«Ja, gern», sagte ich und befreite mich aus der Umarmung, die mir aufdringlich erschien. Sanni Voutilainen war nett und kannte sich mit der Arbeit in Frauenhäusern bestens aus. Auf dem Heimweg überlegte ich, was sie wohl bei Beerdigungen sagte.
Sie würde vermutlich nicht vom Willen Gottes reden, wenn sie am Sarg einer zu Tode geprügelten Frau oder einer an Krebs ge-storbenen Dreißigjährigen stand.
Als ich über den Hof kam, sah ich in Kalles Fenster Licht.
Heute war sein Namenstag, aber ich hatte ihm nicht mal eine Glückwunschkarte in den Briefkasten geworfen. Es wäre leichter gewesen, wenn er nicht gleich nebenan gewohnt hätte. Der Gedanke, ihm jederzeit über den Weg laufen zu können, hielt die Wunde im Herzen offen, und das ertrug ich nicht. Zum Glück wollte Sulo bei Frostwetter nicht nach draußen, sondern begnügte sich damit, auf dem Balkon die Nase in den Wind zu halten. Denn Abfall trug ich meistens erst weg, wenn Kalles Auto nicht auf dem Parkplatz stand. Allmählich gewöhnte ich mir an, automatisch nachzusehen, ob der Wagen dastand, und Kalle klingelte nicht mehr an meiner Tür.
Seit Anfang des Jahres hatte ich auf die Katastrophe gewartet, aber als sie dann kam, fiel sie ganz anders aus, als ich angenom-men hatte. Nach der Sitzung fing Pauli an, mir das Leben schwer zu machen. Er versuchte, die anderen Mitarbeiterinnen auf seine Seite zu bringen und mich aus dem Schutzhafen zu ekeln, aber es gelang ihm nicht. Ohne mein Dazutun fand ich Verbündete. Mitte Februar kam Maisa nach einem routinemäßigen Familiengespräch zu mir; sie schwebte zwanzig Zentimeter über dem Boden und erzählte, dass Pauli der Familie vorgeschlagen hatte, die Therapie fortzusetzen, und der Frau sogar emp-fohlen hatte, mit dem Baby vorübergehend in eine Sozialwoh-nung zu ziehen. In der nächsten Woche arbeiteten wir weiter an unserem Richtlinienentwurf. Zum ersten Mal seit Jahren kam mir meine berufliche Tätigkeit nicht sinnlos und vergeblich vor.
Im Februar gab es plötzlich heftige Schneefälle, die ein paar Tage lang alles durcheinander brachten: Die Busse fuhren nicht, Autos blieben stecken. Dann sanken die Temperaturen, es herrschte der stärkste Frost seit Jahrzehnten, und die ganze Welt schien im Winterschlaf zu versinken. Auch im Schutzhafen war es ein
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