Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
Vom Netzwerk:
schrie ich auf. Ich hatte vor allen meinen Opfern Angst gehabt, aber längst nicht so wie jetzt. Jack Halme war ein Berufsverbrecher, den das Amphet-amin nur noch gefährlicher machte. Ein Teil von mir wollte wei-nend zu Boden sinken, aber der andere Teil war stärker. Ich schlich vorsichtig in mein Arbeitszimmer, versteckte mich hinter der Stellwand und blätterte im Kalender. Da war sie, die Kombination, getarnt als Telefonnummer von Tarmos erster Frau. Ich riss die Seite ab und knipste das Licht an. Als ich auf den Gang kam, klingelte es wieder an der Tür, und Jack rief von draußen:
    «Wenn ihr nicht sofort aufmacht, schieße ich das Fenster ein!»
    Ich schlich in Paulis Zimmer zurück. Im Licht der Leselampe, die unter dem Tisch lag, konnte ich die Nummern am Safe-schloss so gerade entziffern. Meine kurzen Finger zitterten nicht, sie drehten den Verschluss vor und zurück, als gehörten sie einer Fremden. Als ich noch aufs Gymnasium ging, war meinem Vater einmal beim Schleifen das Beil abgerutscht und hatte die Schenkelarterie getroffen. Plötzlich spritzte Blut auf den Boden. Meine Mutter, meine Brüder und der Nachbar, der den Schleifstein drehte, waren völlig hysterisch, und mein Vater wurde fast ohnmächtig, weil er kein Blut sehen konnte. Auch damals hatte ich das Gefühl gehabt, ein Teil von mir hätte meinen Körper verlassen und kaltblütig und präzise funktioniert. Ich hatte die Verbandstasche geholt, die Schlagader abgebunden und einen Druckverband angelegt. Reima war wenigstens so schlau gewesen, einen Krankenwagen zu rufen.
    Der Safe ließ sich mühelos öffnen. Im unteren Fach fand ich eine Schachtel Munition, die Waffe lag im oberen Fach. Sie war merkwürdig schwer und hatte eine seltsame Form. Ich nahm sie in die Hand und hörte im gleichen Moment einen Schuss, dann das Klirren von Glas. Jack versuchte, durch das Fenster in der Eingangshalle hereinzukommen. Die Alarmanlage heulte los, ich ging hinter der Tür in Deckung.
    Ich wusste nicht einmal, ob ich eine Pistole oder einen Revol-ver in der Hand hielt. Aus dem Fernsehen wusste ich, dass man Waffen entsichern musste, bevor man sie abfeuerte. Würde das Ding losgehen, wenn ich jetzt abdrückte? Ich zielte auf das Fenster und probierte es vorsichtig aus, aber der Abzug ließ sich nicht bewegen. War diese kleine Spitze die Sicherung? Ich legte sie um, und jetzt gab der Abzug ein wenig nach. Ich ließ die Sicherung wieder einrasten und versuchte mich zu erinnern, wie in den Fernsehserien geschossen wurde: die Waffe in beiden Händen, Arme ausgestreckt, Beine gespreizt.
    Jetzt waren Jacks Schritte zu hören. Er rannte in mein Arbeitszimmer, dann ins Esszimmer und in die Küche. Bitte, lass ihn nicht darauf kommen, dass sie im Kühlraum sind, betete ich.
    «Jonna, du Miststück! Wenn du sofort herkommst, darfst du dein hübsches Gesicht behalten!»
    Durch Jacks Flüche und das Geheul der Alarmanlage hindurch hörte ich das Geräusch, vor dem ich mich in all diesen dunklen Monaten gefürchtet hatte: eine näher kommende Polizeisirene. Jetzt musste ich in die Eingangshalle gehen, auch auf die Gefahr hin, dort Jack zu begegnen. Oder sollte ich über den Hof zum Tor laufen? War das weniger riskant?
    Auf einmal fühlte ich mich erleichtert. Ich hatte nichts zu verlieren. Das hier war genau der richtige Weg, Sühne zu leisten.
    Ich hörte Jack in der Eingangshalle nach Jonna rufen, an den Toröffner kam ich also nicht heran. Ich musste ans Tor laufen.
    Aber wie kam ich nach draußen? Die Sirenen waren schon ganz nah, und zwischen den hohen Bäumen hinter der Straße tauchte flackerndes Blaulicht auf.
    Anna Hautala hatte Wert auf frische Luft und große Lüftungs-fenster gelegt. Das Fenster in Paulis Zimmer war vierzig Zentimeter breit, sodass ich mich ganz gut hinausschlängeln konnte.
    Eine dieser Detektivinnen, die auf Pfennigabsätzen über den Bildschirm rannten, hätte den Sprung aus anderthalb Meter Höhe und die Zwanzigmeterstrecke ans Tor in einigen Sekunden geschafft, ohne auch nur außer Atem zu kommen, aber ich brauchte mindestens eine halbe Minute, um mich durch den Schnee zu kämpfen. Das war zu lang. Als ich die Hand nach dem Türöffner ausstreckte, hörte ich Jacks Stimme:
    «Nicht aufmachen, du blöde Sau!»

    Jack stand in der Haustür und hielt seine Schrotflinte auf mich gerichtet. Nun gehe ich, Gevatter Tod, den fürcht ich nicht, summte ich leise. Ich entsicherte die Waffe und schoss. Zwar traf ich nur den Sockel des Hauses, aber

Weitere Kostenlose Bücher