Lehtolainen, Leena
Vater umgebracht. Vielleicht hielt Anja die Mordtat für gerechtfertigt.
Ich hatte mich bemüht, nicht an Leena Huttunens Beerdigung zu denken, aber das war ein Fehler gewesen. Der Samstag kam zu schnell, ich schaffte es nicht mehr, mich auf die Situation einzustellen. Im Bus hatte ich eine Panikattacke, die mir fast den Atem abschnürte. Die Beerdigungsfeier fand in der Kirche von Olari statt, in einem von Autogeschäften umringten Gebäu-de, das nur durch das weiße Kreuz an der roten Backsteinwand als Kirche zu erkennen war. Ich ging auf die Toilette, setzte mich und legte den Kopf auf die Knie. Dann atmete ich tief durch und zählte bis zehn. Dies war nicht meine Beerdigung! Plötzlich hatte ich das Gefühl, eigentlich ganz woanders zu sein. Diejenige Säde, die gleich auf Leena Huttunens Beerdigung singen wür-de, war nur eine Puppe.
Wir sangen uns im Gemeindesaal ein. Alle waren niederge-schlagen, die Trauer umhüllte uns wie nasse schwarze Wolle, sie machte blind und erstickte die Stimme. Zu Beginn des Gottesdienstes sangen wir ein Lied aus dem Gesangbuch, «Mit Fried und Freud ich fahr dahin». Zwar sang ich mit, aber in meinem Innern tat sich ein Abgrund auf, der mich zu verschlingen drohte. Ich sang ruhig und sicher, als wäre meine Stimme ein sepa-rater Körperteil, ohne Verbindung zu meinen Gedanken und Gefühlen. Bald merkte ich, dass ich die Altpartie allein sang, denn Leila neben mir schluchzte nur noch, und Iiris brachte auch kaum einen Ton heraus. Nachher würden sie mich als ge-fühllos bezeichnen, aber wir waren nicht hier, um zu trauern, sondern um die Angehörigen mit unserem Gesang zu trösten.
Als der Chorleiter besorgt zu der Altgruppe hinsah, sang ich ein wenig lauter. So war ich eben, auf mich konnte man sich verlassen.
Der Pfarrer sagte, der Tod habe Leena von ihrem Leid erlöst, wir sollten uns also freuen, weil sie jetzt der himmlischen Freu-den teilhaftig werde. Ich hätte gern gewusst, weshalb Gott Leena krank gemacht hatte, aber das sagte der Pfarrer nicht.
Vielleicht war er der Meinung, dass sein Gott immer richtig handelte.
Ich wusste, das stimmte nicht.
Die ganze Gemeinde weinte, als die Familie Huttunen ihre Blumen auf den Sarg legte. Es waren drei Kinder, das älteste acht, das jüngste vier. Hannus Hände reichten nicht für alle drei, er hielt die beiden Jüngeren an der Hand, und das älteste Kind hatte das allerkleinste an der anderen Hand gefasst. Hannu sah jung und hilflos aus und doch wie jemand, dessen Leben vor-
über war. Eine Stimme in mir sagte, dass Leena immerhin in ihren Kindern und später womöglich auch in deren Kindern weiterlebte. Man würde sich an sie erinnern, die Familie würde gemeinsam Mutters Lieblingsspeisen kochen, sie würde Tücher, die nach ihr dufteten, sorgsam verwahren und ihre Pantoffeln unter dem Bett stehen lassen. Die älteste Tochter würde Fotos von ihrer Mutter betrachten, die Gesichtszüge vergleichen, nach Ähnlichkeiten suchen.
An mich würde sich niemand erinnern.
Der Gedanke war niederschmetternd. Ich brachte es kaum fertig, Bachs Choral zu Ende zu singen. Irgendwann hatte ich mir einmal diesen Choral für meine eigene Beerdigung ge-wünscht. Damals dachte ich, wer Bachs Passionen sang, der könne gar nicht anders, als zu glauben, was er sang, aber inzwischen hatte sich mein Glaube in nichts aufgelöst. Die Musik war noch da, genial aneinander gereihte Klänge, eine Polyphonie wie aus dem Lehrbuch des Kontrapunkts. Die Worte sagten mir nichts mehr.
Bei der Leichenfeier brauchten wir nicht aufzutreten, also behauptete ich, ich müsse zur Arbeit, und ging nach Hause. Ich dachte nach. Dass ich die Väätäinens vom prügelnden Vater befreit hatte, war die einzige echte Leistung in meinem Leben.
Daher beschloss ich nachzusehen, was Pasi Leiwo so trieb. Ich zog mich um und fuhr nach Tapiola. Es war eine vergebliche Fahrt, in den Fenstern brannte kein Licht. Auf dem Heimweg betrachtete ich Einfamilienhäuser und Wohnungen mit hell erleuchteten Fenstern und mit Schornsteinen, aus denen Rauch aufstieg, wenn die Sauna angeheizt wurde. In einem Haus holte die Mutter gerade Gebäck aus dem Ofen: Nach der Sauna bekamen die Kinder warme Milch und frische Hefeteilchen. In einigen Fenstern schimmerte das kühle Blau des Fernsehers, aber vor dem Bildschirm saß sicher ein Pärchen oder eine ganze Familie, man kabbelte sich um die Lieblingssendungen, bereitete in der Mikrowelle Popcorn zu. Eine Tüte war genau die richtige Menge für vier
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