Lehtolainen, Leena
Ein-schlafen unablässig durch den Kopf gegangen. Für wen hatte Kalle so ein Lied gesungen? Die ganze Nacht hindurch hatte der Wind in den Geißblattstängeln geraschelt, die sich an der Haus-wand emporrankten, und ich war sicher gewesen, dass der Tod an meine Tür klopfte.
Sulo tapste mir nach in den Flur und stupste mir an die Waden. Ich nahm ihn auf den Arm und drückte das Gesicht in sein Fell. Die Wärme der Katze half. Ich schaffte es, ein Stück Brot und etwas Joghurt zu essen und mich über vereiste Straßen auf den Weg zu machen, zu Menschen, die das Leben zerbrochen hatte.
Die Frau vom Nachtdienst berichtete, Pasi Leiwo habe während der Nacht zehnmal angerufen und erst Ruhe gegeben, als sie ihm mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch drohte.
Anja Jokinen wollte gerade aufbrechen. Maisa hatte bei der So-zialfürsorge Essensgeld für sie besorgt und das Schloss an ihrer Wohnungstür auswechseln lassen. Ich fürchtete nur, Anja wür-de gegenüber Heikki nicht lange stark bleiben. Die Polizei hatte ihn am Abend nicht gefunden, und ich ließ die Sache auf sich beruhen. Ich hatte keine Lust, die Vernehmungen über mich ergehen zu lassen, und außerdem ließ Heikki womöglich seinen Ärger an seiner Mutter aus, wenn er festgenommen würde.
Weil Maisa Therapiesitzungen hatte, erklärte ich mich bereit, mit Anja das Geld und die neuen Schlüssel zu holen. Es war anstrengend, neben einem Menschen herzugehen, der verängstigt vor jedem männlichen Passanten erschrak. Wahrscheinlich hatten die jahrelangen Schläge Anjas Gehirn in Mitleidenschaft gezogen. Der Gedanke machte mich wütend, und die Wut gab mir Kraft, die anstehenden Dinge zu erledigen. Wir gingen aufs Sozialamt, dann fuhren wir nach Kuitinmäki, wo Anja wohnte, und kauften dort ein. Sie nahm billige, haltbare Lebensmittel: Reis, Erbsensuppe, Knäckebrot, Trockenhefe und Milchpulver. Es war, als ob sie sich für eine Atomkatastrophe eindeckte.
Der Monteur war gerade dabei, das neue Schloss einzubau-en, die Tür war zerbeult, als hätte jemand dagegengetreten. Auf der Innenseite hing eine halb abgerissene Sicherheitskette: Sie hatte Heikkis letztem Ansturm nicht standgehalten. Die Einzimmerwohnung war voll gestopft mit abgenutzten Möbeln. In seiner Alkoholgier hatte Heikki unter anderem das Radio und das Videogerät verkauft. Anja hatte jetzt ein altes Transistorradio, ein schmutzig weißes altes Telefon mit Wählscheibe und einen Schwarzweißfernseher, alles Dinge, für die man nirgendwo eine müde Mark bekam.
Als ich den Monteur bat, die Sicherheitskette zu reparieren, maulte er, das sei nicht seine Aufgabe, dafür sei die Firma zu-ständig, die die Kette angebracht hatte.
«Dann leihen Sie mir mal Ihren Schraubenzieher», sagte ich wütend, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich damit anfan-gen sollte. Das half. Der Mann machte sich an die Arbeit. Ich hatte wahrhaftig mein Leben damit vergeudet, zu allen freundlich zu sein. Immer hatte ich überlegt, was die anderen denken mochten, aber jetzt war es mir vollkommen egal, mit welchen Schimpfwörtern der Monteur mich im Stillen verfluchte. Hauptsache, die Sicherheitskette wurde repariert.
«Wenn Heikki vor der Tür steht und dich bedroht, rufst du sofort bei der Polizei und im Schutzhafen an. Mach auf keinen Fall die Tür auf! An dem Tag, an dem du deine Rente abheben kannst, musst du auch im Schutzhafen anrufen. Wir begleiten dich dann zur Bank und in den Laden.»
Durch Heikkis ständige Drohungen war Anja praktisch zu Hausarrest verurteilt. Wir konnten nicht für jeden Gang zur Bank oder zum Einkaufen eine Begleitung schicken, außerdem hätte gegen Heikki Jokinen keiner von uns etwas ausrichten können, selbst Pauli nicht.
«Am ersten Januar tritt das Kontaktverbotsgesetz in Kraft.
Wenn du Anzeige erstattest, kann der Richter Heikki verbieten, in deine Nähe zu kommen.»
«Ich kann doch meinen eigenen Sohn nicht verraten!
Kaarlos Leben ist auch schon verpfuscht, durch das Gefängnis.
Kaarlo war ein anständiger Junge, er hat die Schule zu Ende gebracht und Arbeit gefunden. Er hat auch nicht getrunken, wie sein Vater und sein Bruder. Eine Freundin hatte er auch, aber die hat nicht auf ihn gewartet, die hat einen anderen geheiratet.
Ich trau mich gar nicht, ihm zu erzählen, wie Heikki sich aufführt, sonst gibt es noch mehr Ärger, wenn Kaarlo wieder rauskommt …» Anja weinte leise in sich hinein. Seltsam, dass sie von Kaarlo sprach wie von einem Heiligen, dabei hatte er doch seinen
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