Lehtolainen, Leena
Leute.
Ich war noch nie so glücklich über Sulos Anwesenheit wie an diesem Abend.
Am Sonntag war Vatertag, ich musste meinen Vater anrufen.
Wie üblich reichte er nach einigen Sätzen den Hörer an meine Mutter weiter.
«Du bist krank gewesen, hat Tupu gesagt.»
«Nur eine Magen-Darm-Grippe, ist schon vorbei. Hoffentlich haben sich Reima und Tupu nicht angesteckt.»
«Reima hat beim Vatertagskaffee ziemlich blass ausgesehen, aber das war eher die Schnapskrankheit aus Tallinn. Wann kommste denn mal?»
Wieder musste ich Ausreden aufsagen. Ich erfand ein Konzert mit dem Chor und einen Theaterbesuch mit den Kollegen. Am besten schrieb ich mir meine gesammelten Lügen auf, damit ich mir nicht widersprach.
Meine Mutter fing an, die Wehwehchen aufzuzählen, die sie selbst, ihre Nachbarn und die Verwandten plagten, und erzählte von einer Messerstecherei in der Innenstadt, bei der ein ehemaliger Klassenkamerad von Aimo verletzt worden war. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich hatte Nachtdienst, und am Abend des Vatertags herrschte stets Alarmstufe eins. Die Väter tranken die Flaschen leer, die sie geschenkt bekommen hatten, und wet-terten anschließend über den mangelnden Respekt ihrer Familie, und die erwachsenen Söhne beschlossen, ihrem Vater endlich mal zu sagen, was sie von ihm hielten. Diesmal verlief die Nacht allerdings ohne besondere Vorkommnisse. Ich verschlief den halben Montag, und am Dienstag traf ich Tiina Leiwo geschminkt, munter und fast unversehrt an. Sie war auf dem Weg zur Arbeit.
«Ich war gestern schon da, auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Faxe. Ich muss einfach zurück an die Arbeit. Pasi, der Blödmann, hat meinem Chef erzählt, er wüsste nicht, wo ich bin. Ich habe gesagt, wir hätten uns gestritten und ich hätte vor lauter Aufregung einen Unfall gebaut, aber das hat er wohl nicht ganz geschluckt.»
Tiina hatte am Montag mit Pasi telefoniert, der sich wieder wortreich entschuldigt hatte. Sie meinte, sie würde vielleicht nach Hause zurückgehen, aber heute noch nicht. Pasi hatte am Abend ein wichtiges Kundengespräch, und Tiina wollte ihm lieber nicht in die Quere kommen.
«Pauli hat euch sicher vorgeschlagen, regelmäßig hier im Haus Gespräche zu führen.»
Tiina nickte und sagte, sie wollten keine Familientherapie, sie würden ihre Probleme selbst lösen. Vergeblich versuchte ich, sie umzustimmen. Sie fürchtete sich immer noch vor Pasi, aber eine makellose Fassade und ein gesicherter Lebensstandard schienen ihr wichtiger zu sein als das eigene Leben.
Am Abend zog ich meinen elegantesten Hosenanzug an und kramte mein spärliches Make-up hervor: Feuchtigkeitscreme, Puder, Mascara und einen hellen, unauffälligen Lippenstift. Ungeschickt schminkte ich mich und betrachtete das Ergebnis im Spiegel. Meine Haut war immer noch gerötet und fleckig, die Wimpern waren zwar länger, aber mit kleinen Klümpchen ver-klebt. Zum ersten Mal gestand ich mir ein, dass mein Lippenstift dunkler sein könnte und dass ich mir die Augenbrauen nachziehen müsste. Ich schrieb mir auf: Neuen Lippenstift und Augenbrauenstift kaufen! Dann fuhr ich ins Zentrum von Espoo, zum Hotel Kuninkaantie, wo Pasis Kundengespräch stattfand.
Ich fragte den Portier nach dem Konferenzraum, ging aber nicht hinein, sondern setzte mich an die Bar im Foyer, von wo ich alle sehen konnte, die das Hotel verließen.
Ich bestellte Orangensaft und versteckte mich hinter der Bou-levardzeitung, die auf der Theke gelegen hatte. An der Bar war wenig los, aus den Lautsprechern dröhnten englischsprachige Songs. Ich versuchte, die Ohren zu verschließen und mich auf die vorbeigehenden Menschen zu konzentrieren. Wer von ihnen kam von der Werbeveranstaltung der Software-Firma? Zwei gepflegt aussehende Männer, deutlich jünger als ich, kamen an die Bar. Waren sie Kunden von Pasi Leiwo? Sie unterhielten sich in einer Sprache, die ich nicht verstand. Es war zwar Finnisch, und zwischendurch schnappte ich auch das eine oder andere bekannte Wort auf, aber die Computerterminologie war mir un-begreiflich. Offensichtlich näherte sich Pasis Veranstaltung dem Ende. Von Tiina wusste ich, dass seine Präsentationen meistens um sechs Uhr begannen. Zuerst führten die Verkäufer die Pro-gramme vor, die ihre Firma entwickelt hatte, danach gab es ein Abendessen, bei dem die Gläser immer wieder nachgefüllt wurden. Während des Essens versuchten die Verkäufer, einzelne Kunden ins Gespräch zu ziehen und sie zu Bestellungen zu überreden. Pasi
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