Lehtolainen, Leena
Aber ein Abstecher zur Kaskenkaatajantie war kein großer Umweg. Ich würde schnell nachsehen, ob Pasi nach Hause gefahren war.
Kaum zehn Minuten später stand ich vor der Wohnung der Leiwos. Leider hatte ich keine Werbeprospekte dabei, oder einen Hund, mit dem ich am Haus vorbeispazieren konnte. Ich musste auf meine Unauffälligkeit vertrauen. Im dunkelblauen Mikrofaseranzug war ich unter den Bäumen kaum zu sehen, solange kein Licht auf die reflektierenden Streifen fiel.
Die Leiwos wohnten am Ende einer Reihenhaussiedlung aus den sechziger Jahren. In den Fenstern sah ich Licht. Sollte ich es wagen, näher heranzuschleichen? Ich kettete das Fahrrad an ein Verkehrsschild und näherte mich vorsichtig dem Haus.
Problemlos schaffte ich es in das Gärtchen hinter dem Haus, wo ich hinter der Thujahecke Schutz suchte. Von dort konnte ich genau in die Küche sehen. Pasi war gerade dabei, seine Einkäufe auszupacken, anschließend setzte er routiniert Kartoffeln auf und würzte den Fisch. Dann holte er eine halb volle Flasche Weißwein aus dem Schrank und goss sich davon ein. Er schwenkte das Glas eine Weile in der Hand, schnupperte daran und probierte vorsichtig. Er machte ein zufriedenes Gesicht. Ich kam mir vor wie im Theater, wo Pasi mutterseelenallein die Rolle des anständigen Mannes spielte.
Mein ganzes Leben lang war ich Zuschauerin gewesen. Ich hatte meine kleinen Brüder bestaunt, als sie im Kinderbettchen strampelten, hatte sie im Sportwagen geschoben und mit dem Schnuller beruhigt, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. In der Unterstufe hatte ich die anderen Mädchen um ihre schönen Kleider beneidet, um ihre glänzenden Haare und ihre kleinen Romanzen mit den Jungen aus unserer Klasse. Beim Krippen-spiel in der Schule war ich kein einziges Mal die Maria oder ein Engel. Einmal durfte ich im Chor mitsingen, aber auch da stand ich versteckt hinter dem Klavier, während sich die mutigeren Kinder nach vorn drängten. Ich hatte unter Bäumen gestanden und meinen Brüdern beim Tarzanspiel zugeschaut, ihre Ge-schmeidigkeit und Tollkühnheit bewundert, hatte Bücher gelesen, in denen ich einen Blick auf ein anderes Leben werfen konnte, ein Leben, das bunter, spannender, abenteuerlicher war als meines.
Ich war nie besonders beliebt gewesen, aber in den mittleren Klassen und in der Oberstufe hatte ich immerhin Freundinnen gefunden, denn ich war eine gute Zuhörerin. Ich hatte es ver-standen, den anderen genau das zu sagen, was sie hören wollten: «Der Lidschatten steht dir prima.» – «Lauri ist furchtbar verknallt in dich, merkst du nicht, wie er dich immer anguckt?»
Und so weiter.
Zum Studium war ich absichtlich nach Helsinki gegangen, um meine alte Rolle loszuwerden, aber ohne Erfolg. Den Studi-enplatz bekam ich schon beim ersten Anlauf, denn ich hatte mir schon in der Schule angewöhnt, fleißig zu lernen. Im Unterricht war ich nämlich selten zu Wort gekommen, weil die Lehrer mich übersahen, wenn auch nur ein Einziger von den anderen sich meldete. Gute Noten hatte ich nur bekommen können, indem ich bei den Klassenarbeiten alles wusste. Ich büffelte wie eine Wahnsinnige für die Aufnahmeprüfung zur staatswissenschaft-lichen Fakultät, und als ich sie dann bestand, war meine Familie erstaunt: «Unsere Säde wird Magister!»
Eine lange Ausbildung war in meiner Familie nicht üblich.
Aimo ging nach der mittleren Reife noch ein Jahr aufs Gymnasium, wechselte dann aber auf die Landwirtschaftsschule, meine jüngeren Brüder schafften mit Ach und Krach den Schulab-schluss. Heute verdienten sie besser als ich, hatten aber auch viel mehr Ausgaben.
Während des Studiums engagierte ich mich in der Fachschaft und sang eine Weile im Chor, wurde es aber bald leid, den anderen bei ihrer hemmungslosen Paarbildung zuzuschauen oder mir anzuhören, wie sie sich in ihren Cliquen amüsierten. Ich sang nicht übermäßig gut und vertrug nicht genug Schnaps, um mithalten zu können. Ich studierte gewissenhaft, machte nach viereinhalb Jahren den Abschluss, und um das Studiendarlehen möglichst bald abzahlen zu können, nahm ich den ersten Job an, den ich fand: als Sozialarbeiterin im Sozialamt Helsinki-Mitte.
Schon das riesige Gebäude wirkte damals Respekt gebietend, ich hatte das Gefühl, mich in seinen Fluren zu verlieren. Ich war eine kleine, mausgraue Vierundzwanzigjährige, demütig und anpassungsfähig, es dauerte nicht lange, bis man mich so zu-rechtgebogen hatte, dass ich nicht nur meine eigene Arbeit erledigte,
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