Lehtolainen, Leena
Sie kramte einen dunklen Konturenstift hervor und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse, bevor sie mit sicheren Handbewegungen die Lippen nachzog.
«Bei Gewalt in der Familie muss man sofort einschreiten, damit es nicht eines Tages so weit kommt wie bei Irja Ahola.
Daran musste ich vor ein paar Wochen wieder denken, im Zusammenhang mit einem anderen Fall. Eigentlich befasst sich das Gewaltdezernat ja nicht mit Verkehrsunfällen, aber wenn es Todesopfer gibt, unterstützen wir die Ermittlungen, weil Tö-
tungskriminalität ins Spiel kommen kann. Erinnerst du dich an den Unfall auf der Turkuer Autobahn vor ein paar Wochen, ein betrunkener Fahrer, der mit hundertsechzig Sachen gegen eine Brücke gerast ist? Das war der Mann von einer eurer Klientinnen.»
«Woher weiß die Polizei denn das?», fragte ich verdattert.
Tiina Leiwo hatte die Misshandlung nicht angezeigt, davon war ich überzeugt.
«Wir haben mit der Witwe gesprochen. Ihrer Aussage nach war sie einige Tage vor dem Unfall auf der Flucht vor ihrem Mann in den Schutzhafen gekommen. Sie vermutet den Grund für den übermäßigen Alkoholkonsum und die wahnsinnige Ra-serei ihres Mannes in seiner Befürchtung, sie würde sich von ihm scheiden lassen.»
Kallio holte eine Halbliterflasche Cola-light aus der Tasche und nahm einen kräftigen Schluck. Im Spiegel glitzerten ihre grünen Augen wie Sulos, wenn er einer Wühlmaus auflauerte.
«Und?», fragte ich mit unschuldigem Blick, obwohl ich vor Angst fast wahnsinnig war.
«Nichts und. Unserem Dezernat bleibt Arbeit erspart, weil ein Schläger bei einem Verkehrsunfall umgekommen ist», sagte sie und grinste zynisch. «Hoffentlich erstattet ihr beim nächsten Fall Anzeige, damit es nicht noch mehr Tote gibt. Wir nehmen das ernst, das garantiere ich. Auf bessere Zeiten, Säde!»
Die Tür fiel hinter Hauptkommissarin Kallio ins Schloss, ich blieb noch eine Weile.
Ich war schon wieder schweißgebadet.
Zehn
Zehn
Am Mittwoch musste ich mit dem Bus zur Chorprobe fahren, da es heftig schneite. Es würde einige Tage dauern, bevor mir die vom Schnee verwandelte Landschaft wieder vertraut war. Für das Weihnachtskonzert hatte ich meine Kolleginnen und einige Klientinnen des Schutzhafens beschwatzt und ihnen insgesamt fast zwanzig Eintrittskarten verkauft. Ob Kalle auch eine nahm?
Ich fragte ihn lieber nicht. Er war musikalisch genug, um zu merken, wie schlecht unser Chor war.
«Wir haben dich letzte Woche vermisst», sagte Laila, als ich mich zu den Altistinnen stellte.
«Ich musste arbeiten», schwindelte ich bedenkenlos. Was hät-te die achtjährige Säde, die in der Sonntagsschule die Beste war und dafür ein Gesangbuch bekam, wohl zu ihrem siebenundzwanzig Jahre älteren Ich gesagt, das eine Lüge an die andere reihte und Menschen ins Jenseits beförderte? Wahrscheinlich hätte sie es aufgefordert, um Gnade für seine Seele zu beten. Ich aber setzte mich einfach hin, und in der Pause zwang ich Timo Takala, mir die letzten überzähligen Noten auszuhändigen.
«Ist doch klar, dass die hier im Chor den Boss spielt, sie hat ja keinen Mann zum Rumkommandieren», zischelte Timo einem anderen Tenor zu. Es war mir inzwischen egal, was er von mir dachte. Dagegen gingen mir auf dem Heimweg Lailas Worte im Kopf herum. Hatte man mich bei der Chorprobe wirklich vermisst?
Das Weihnachtskonzert war ein passender Anlass für eine neue Frisur. Lange dachte ich über Farbe und Schnitt nach, spielte sogar mit dem Gedanken an leuchtendes Kupferrot, entschied mich aber zu guter Letzt für einen Rotgoldton, der etwas heller war als meine eigene Haarfarbe, und für einen Kurzhaar-schnitt. Das Ergebnis war verblüffend, ich wirkte viel jugend-licher als mit der Pagenfrisur. Da meine alte Brille zu der neuen Frisur allzu brav aussah, kratzte ich mein letztes Geld zusammen und suchte mir beim Optiker ein neues Gestell aus. Das mit dem Leopardenmuster war mir ein bisschen zu wild, aber wenn ich mir zwei Brillen hätte leisten können, hätte ich sie für besondere Anlässe gekauft. Ich entschied mich für ein Gestell mit leicht asymmetrischen eckigen Gläsern, das gut zu meinem schmaler gewordenen Gesicht passte. Die zwei Tage, die ich auf die Brille warten musste, kamen mir ewig lang vor.
Ich erregte Aufsehen, als ich im orangefarbenen Pullover und mit neuem Haarschnitt zur Arbeit kam.
«Meine Güte, was für eine tolle Frisur!» Die Köchin schlug die Hände über dem Kopf zusammen wie auf einer Karikatur.
«Du siehst
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