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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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und auf den Boden spuckten. Sie waren in einem Verfahren wegen Körperverletzung als Zeugen geladen. Offensichtlich ging es um eine Schlägerei zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, denn die Jungen sprachen von verfluch-ten Kanaken und prahlten, beim nächsten Mal würden sie die Sache voll durchziehen. Der Assistent der Staatsanwältin kam zwischendurch heraus und schaute nach mir. Er fragte, ob ich Kaffee oder ein belegtes Brot wollte. Das tat mir gut, denn ich hatte schon befürchtet, man hätte mich auf dem Gerichtsflur vergessen und meine Aussage wäre ohne Gewicht.
    Als ich endlich aufgerufen wurde, waren meine Schultern von den unbequemen Stühlen und vom hysterischen Stricken ver-krampft. In drei Stunden kommt man selbst mit dünnem Baum-wollgarn ein gutes Stück voran, noch einmal so viel und der Rücken war fertig. Der Gerichtssaal war hell erleuchtet. Pentti Ahola, im schlecht sitzenden schwarzen Anzug und mit grauen Bartstoppeln, sah aus, als wäre er zusammengeschrumpft. Ich verspürte einen Anflug von Mitleid, das jedoch gleich wieder verschwand, als die Staatsanwältin das Wort ergriff. Ich hatte eine Liste von Irja Aholas Aufenthalten im Schutzhafen zusam-mengestellt. In fünf Jahren hatte sie sich zwanzigmal zu uns ge-flüchtet. Die Staatsanwältin sah darin einen Beweis für vorsätzliche und wiederholte Misshandlungen und plädierte auf Mord.
    Die Vernehmung durch die Staatsanwältin verlief trotz meiner Nervosität reibungslos. Dem Verteidiger fühlte ich mich dagegen nicht gewachsen. Er war ein gepflegter junger Mann, neben dem ich mir unbedeutend vorkam.
    «Sie haben ausgesagt, die Misshandlungen seien seit Jahren erfolgt. Warum wurde kein einziges Mal Anzeige erstattet?»
    «Irja Ahola war dazu nicht bereit.»
    «Hielt das Frauenhaus Schutzhafen es nicht für angebracht, Anzeige zu erstatten?»
    «Es ist unser vorrangiges Prinzip, den Willen unserer Klientinnen zu respektieren.»
    «War es nicht vielmehr so, dass keine Anzeige erstattet wurde, weil die Misshandlungen so geringfügig waren, dass sie für eine Anklageerhebung nicht ausgereicht hätten?»
    In der Stimme des jungen Anwalts klang unverkennbare Sie-gesgewissheit, und auf einmal packte mich die Wut. Sollte Pentti Ahola etwa mit einer Verurteilung wegen Totschlag davonkommen, nur weil wir nie Anzeige erstattet hatten? Das durfte nicht sein.
    «Es handelte sich nicht um geringfügige Misshandlungen.
    Irja Ahola kam unter anderem mit folgenden Verletzungen in den Schutzhafen …»
    Ich zählte gebrochene Nasen, Rippenbrüche, gequetschte Finger und ausgerenkte Kiefer auf, als ob ich eine Einkaufsliste herunterratterte, und starrte dabei dem Anwaltsbürschchen fest in die Augen. Vielleicht war er frustriert, weil er nach dem Studium nicht sofort eine Stelle in einer großen Kanzlei bekommen hatte, wo die einträglichen Fälle bearbeitet wurden, sondern in einer kleinen Firma arbeitete, die sich mit unbedeutenden Menschen und ihren kläglichen Morden abgab. Vor lauter Wut beschrieb ich jede Prellung, an die ich mich erinnerte, ebenso haarklein wie Irjas bodenlose Angst vor ihrem betrunkenen, to-benden Ehemann.
    Als ich meine Aussage beendet hatte, war ich nass geschwitzt. Ich ging auf die Toilette, um mir den Hals und die Ach-selhöhlen zu waschen. Dummerweise hatte ich keine Bluse zum Wechseln dabei. Ich hörte die Tür aufgehen, konnte aber nicht sehen, wer gekommen war, weil ich mir gerade das Gesicht wusch. Kurz darauf hörte ich die Spülung rauschen, und dann stand Hauptkommissarin Maria Kallio neben mir. Sie trug einen eleganten Nadelstreifenanzug, die roten Haare hatte sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Bei genauem Hinsehen merkte man, dass das Make-up die dunklen Schatten unter ihren Augen nicht völlig verdecken konnte.
    «Tag, Säde! Hast du deine Aussage schon gemacht?»
    «Ja.» Ich holte die Puderdose aus der Handtasche, sie warf ein schmuddliges Schminktäschchen auf den Waschbeckenrand und nahm einen golden glänzenden Stift heraus, mit dem sie die unteren Lider bestrich.
    «Wie ist es gegangen?»
    «Der Verteidiger hat die Misshandlungen bagatellisiert, weil keine Anzeige erstattet worden war. Ich habe versucht klarzu-stellen, dass es sich nicht bloß um blaue Flecken handelte.»
    «Gut. Das gerichtsmedizinische Gutachten hat ebenfalls be-stätigt, dass Irja zahlreiche ältere Verletzungen hatte, die von Misshandlungen stammen. Ihr könntet eure Klientinnen allerdings ermutigen, öfter Anzeige zu erstatten.»

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