Lehtolainen, Leena
mindestens sieben Jahre jünger aus!» Maisa wirkte geradezu schockiert.
«Du hast eine neue Frisur. Steht dir gut», stellte sogar Pauli fest.
An dem Abend, als ich meine neue Brille bekommen hatte, stieß ich im Lebensmittelgeschäft mit Kalle zusammen – buch-stäblich: Unsere Einkaufswagen prallten gegeneinander, als ich hinter dem Kaffeeregal in den Mittelgang einbog.
«Entschuldigung», sagte Kalle in der Fünftelsekunde, die er brauchte, um mich zu erkennen. «Ach, Säde, du bist das. Ich hätte dich fast nicht erkannt, du hast eine neue Frisur und …»
«Und eine neue Brille», sagte ich und genoss seine Bewunde-rung.
«Schick! Ich kann dich im Auto mitnehmen, ich hole nur noch einen Kasten Bier. Mein Bruder kommt heute zu Besuch, wir gehen in die Sauna. Ich dachte, ich serviere ihm eine traditionelle finnische Mahlzeit.» Er zeigte auf seinen Einkaufswagen, in dem Fleischwurst, Roggenbrot und scharfer Senf lagen.
«Ich brauche noch Katzenfutter und Zucker.»
«Bring mir auch ein Paket Kristallzucker mit, wenn du welchen findest.»
Ich holte zwei Pakete Zucker und hielt das für eine höchst be-deutsame Tat. Wir trafen uns an der Kasse, und nachdem er bezahlt hatte, lud Kalle meine Einkäufe mit in seinen Wagen und schob ihn ins Parkhaus. Als wir die Sachen in sein Auto packten, schnürte es mir das Herz ab. Wenn das Leben doch daraus bestehen könnte, gemeinsam alltägliche Besorgungen zu machen: Zucker kaufen, Würstchen braten. Aber sein Alltag überschnitt sich nur für einen Augenblick mit meinem, ein kurzer Zusam-menstoß wie vorhin mit den Einkaufswagen, dann ging es in getrennte Richtungen weiter. Die Vorstellung, nie mehr mit Kalle ins Kino zu gehen, tat weniger weh als der Gedanke, nie eine Packung Zucker miteinander zu teilen.
«Ich bin etwas nervös, ich habe meinen Bruder nämlich seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen», sagte er, als er an der Ampel in die Finnoontie einbog. «Hoffentlich haben wir uns überhaupt noch etwas zu sagen. Mit dir konnte ich von Anfang an gut reden.»
«Unser Chor gibt am Samstag ein Weihnachtskonzert», sagte ich hastig. «Die Karten kosten 50 Mark. Wie viele möchtest du?»
«Wann und wo?», fragte Kalle und bestellte zwei Karten, denn er wollte seine Mutter mitbringen. Ob Mutter und Bruder ebenso groß und dunkelhaarig waren wie er?
Ich machte keinen Versuch, Kalles Bruder zu Gesicht zu bekommen, sondern ging sofort nach Hause, denn im Fernsehen lief mein Lieblingsfilm, «Hilda Juurakko». Sulo auf dem Schoß, eine Tafel Schokolade und eine Flasche Orangensaft in Reichweite, saß ich gemütlich auf dem Sofa und war für den Rest des Abends vollkommen glücklich.
Am Tag des Konzerts schien die Sonne, aber wir hatten fast 20 Grad minus. Mein neuer, preiselbeerroter Wintermantel war angenehm warm. Ich hatte ihn am Abend zuvor gekauft, nachdem die Steuerrückzahlung auf meinem Konto eingegangen war. Beim Einsingen herrschte erwartungsvolle Spannung, denn das Weihnachtskonzert war für den Chor das wichtigste Ereignis des Jahres. Die Konkurrenz um das Publikum war hart, in der Hauptstadtregion fanden am gleichen Abend mindestens acht weitere Konzerte statt, darunter einige, die von Berufsmu-sikern gegeben wurden. Wir setzten auf bekannte Lieder und einfache Arrangements. Außerdem hatte der Chorleiter einige Studienkollegen überredet, mittelalterliche Weihnachtslieder auf der Flöte zu spielen. Aus taktischen Gründen hatten wir unser Konzert auf vier Uhr gelegt: Unser potenzielles Publikum wollte am Abend, wenn im Fernsehen das samstägliche Unter-haltungsprogramm anfing, zu Hause sein.
Nach dem Einsingen mussten wir uns umziehen. Die meisten Männer waren von vornherein im schwarzen Anzug gekommen und wurden nun aus dem Gemeindesaal gescheucht. Ich reihte mich mit meinem perlgrauen Chorgewand in die Schlange vor der Damentoilette ein.
«Bist du so prüde, dass du dich nicht im Gemeindesaal umziehen kannst wie die anderen?», fragte Timo Takala, als er mich dort stehen sah.
«Das geht dich gar nichts an», gab ich zurück. Timo war bekannt für seine schlechte Laune vor Konzerten, er war nervös wegen seiner Solopartien. Wenn er diesmal bei seinem Solo in
«O Heil’ge Nacht» das hohe a nicht traf, konnte er es auf meine freche Antwort schieben.
Endlich war ich umgezogen und sogar geschminkt, obwohl einige Chormitglieder Lippenstift bei Kirchkonzerten missbil-ligten. Als wir singend in die Kirche einzogen, suchte ich im Publikum
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