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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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unwillkürlich nach Kalle. Er saß in einem dicken Pullover in einer der mittleren Bänke und sah ein wenig verloren aus. Als unsere Blicke sich trafen, lächelte er.
    Zwei Drittel des Konzerts lief alles bestens, nie zuvor hatte ich so gut gesungen. Vor allem die tiefen Töne versetzten meinen ganzen Körper in Schwingung, mein Brustkorb erschallte wie der Resonanzboden einer Geige. Kalle saß genau richtig, sodass ich ab und zu nur für ihn singen und ihn dabei ansehen konnte, zwischen den Sängern in der ersten Reihe hindurch und an den Händen des Chorleiters vorbei, die von Lied zu Lied sicherer den Takt schlugen.
    Die Katastrophe kam erst beim vorletzten Lied, «O Heil’ge Nacht». Steif dastehen, die Chormappe halten und über eine Stunde fast ununterbrochen singen, all das verlangte Kräfte, die ich nicht hatte. Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinab, meine Beine schienen plötzlich aus Schneematsch zu bestehen.
    Mein Mund wurde trocken, die Arme des Chorleiters ver-wandelten sich in zwei undeutliche Stöckchen. Ich geriet ins Schwanken. Laila, die neben mir stand, war so geistesgegenwärtig, mich herunterzudrücken, bis ich saß, gerade als Timo Takala zum Höhepunkt seines Solos in der ersten Strophe kam. Ich hockte bis zum Ende des Liedes dort unten, den Kopf auf die Knie gelegt, sodass mein Gesicht einen dunklen, pudrigen Heck auf dem Chorgewand hinterließ. Zum Glück verbargen mich die Sängerinnen in der ersten Reihe mit ihren langen Röcken vor den Blicken des Publikums. Als der Chor «Schönster Herr Je-sus» anstimmte, kam ich immerhin wieder auf die Beine. Während wir die letzte Strophe sangen, zogen wir paarweise aus der Kirche.
    «Alles in Ordnung?», fragte Laila, sobald das Publikum uns nicht mehr hören konnte.
    «Ja, ja, mich hat nur das Stehen angestrengt.» Ohnmachtsan-fälle bei Konzerten waren nicht ungewöhnlich, ich konnte mir weitere Erklärungen sparen.

«Säde, da fragt jemand nach dir!», rief eine Sopranistin von der Tür her.
    Ich erwartete, eine Kollegin zu sehen, aber es war Kalle, der mit einer großen, weihnachtlich roten Lilie im Foyer stand.

    «Ein schönes Konzert», sagte er und überreichte mir die Blume.
    «Danke», stammelte ich verwirrt.
    «Ist dir schlecht geworden?» Seine Stimme klang ehrlich besorgt.
    «Das Stehen strengt an.»
    Ich spürte die Blicke der anderen im Rücken. Kalle war ein gut aussehender Mann, was hatte er mit einem grauen Mäuschen wie mir zu schaffen?
    «Ich kann dich nach Hause fahren. Meine Mutter konnte leider nicht mitkommen.»
    «Danke, aber wir feiern gleich noch bei unserem Chorleiter.
    Ich muss mich umziehen. Vielen Dank für die wunderschöne Blume!»
    Diesmal war ich diejenige, die ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Dann rettete ich mich vor der Neugier der anderen auf die Toilette.
    Ganz entkam ich ihnen natürlich nicht. Das Verhör begann bereits in Lailas Auto.
    «Wer war denn der gut gebaute Kerl?»
    «Der Mann einer Nachbarin», antwortete ich gleichmütig, obwohl ich Lust hatte, mir mit der in Zellophan eingewickelten Lilie über die Wange zu streicheln.
    «Der Mann von irgendeiner Nachbarin wird dir doch keine Blumen bringen. Im Übrigen habe ich die Frau Nachbarin nicht gesehen», frotzelte Laila. «Jetzt weiß ich auch, warum du eine neue Frisur und eine neue Brille hast und wieso du dich neuerdings schminkst …»
    «Und abgenommen hast du auch», fuhr Terttu fort. «Heißt es nicht, Liebe macht schlank?»
    Glaubt, was ihr wollt, dachte ich und weigerte mich, über Kalle zu reden.
    Unsere Feier war bescheiden und harmlos, wie es sich für einen Gemeindechor ziemt. Zuerst aßen wir, was die Frau des Chorleiters gekocht hatte: karelischen Fleischtopf und Kartoffelpüree, ein traditionelles finnisches Gericht, gerade richtig für den Vorabend des Unabhängigkeitstags.
    «War mein Solo so schlecht, dass dir schwindlig wurde?», fragte Timo Takala vom Tischende. Seine stechenden blauen Augen lächelten selbstgefällig. Ich wusste sehr wohl, welche Antwort er erwartete: Nein, dein Solo war so wundervoll, dass es mich umgeworfen hat.
    «Nein, nein, es war ganz gut, nur ein bisschen zu hoch. Die Übelkeit hatte einen ganz anderen Grund.»
    Timos Grinsen fiel in sich zusammen, der Chorleiter wechselte rasch das Thema. Laila, die auch nicht zu Timos Fanclub gehörte, stieß mich unter dem Tisch an. Ich konnte den Schubs nicht erwidern, denn es ging mir immer noch nicht besonders, ich brauchte meine ganze Konzentration, um

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