Lehtolainen, Leena
vorgeschlagen, auf die Schwes-ternschule zu gehen! Ich bin eine starke Frau, habe ich zu ihr gesagt, keine Fee im Schwesternhäubchen. Allmählich habe ich erkannt, dass alles ganz richtig gekommen ist. Die Schulmedizin ist reine Biologie und Physiologie, und die akademische Psychologie will alles mit Gehirnimpulsen erklären. Wo bleibt da der Mensch, wo bleiben die Gefühle?
Ich bin ein Gefühlsmensch, sensibel, empfindsam und schöpferisch. Meine Kreativität kennt viele Formen. Ich bedrucke Stoffe und nähe einen Teil meiner Kleider selbst, beschäftige mich an der Volkshochschule mit Aquarell- und Ölmalerei und singe in einem Ensemble. Ich kann Gedichte deklamieren und Gitarre spielen, ich habe mich vielseitig weiterentwickelt. Man muss hart an sich arbeiten, um all das Schreckliche zu überwinden, das ich erlebt habe. Diese furchtbaren Erfahrungen sind so groß und belastend; wenn ich nur daran denke, erdrücken sie mich wie ein tonnenschwerer Felsblock, der unerwartet auf mich herabfällt.
Ich habe seit einiger Zeit den Verdacht, dass mein Vati mich sexuell missbraucht hat. Ich erinnere mich zwar nicht daran, aber es gibt viele Vorfälle aus meiner Kindheit, die meinem Gedächtnis entschwunden sind. Ist es nicht oft so, dass ein sensibler Mensch vergisst, um sich zu schützen? Die Erinnerung würde mich zerbrechen. Vati hat mich auf jeden Fall angefasst, und meine Brüder haben mir auf den Busen gestarrt, vor allem Rane. Unser wundervoller Rane, der alles gevögelt hat, was sich bewegte, und manchmal auch solche, die sich nicht mehr rühren konnten, wie die sturzbesoffene Merja Hiltunen. Ich habe sie am Waldrand gesehen, im Auto, als ich von der Klassenfete nach Hause geradelt bin. Merja war eins der Mädchen aus den oberen Klassen, die meine Freundinnen sein wollten, weil ich zwei ältere Brüder hatte. Einige Mädchen fanden sogar Veikko attraktiv, was ich überhaupt nicht verstehen konnte.
Als ich zur Welt kam, war Sirkka sieben, Rane fünf und Veikko drei. Wegen der neuen Maschinen gab es nicht mehr viel Arbeit für Forstarbeiter, außerdem hatte Vati oft Rückenschmerzen. Ein halbes Jahr nach meiner Geburt ging Mutter wieder im Laden arbeiten, und Vati oder eine alte Frau aus dem Nachbar-haus passten tagsüber auf uns auf. Die Nachbarsfrau hatte einen säuerlichen Geruch und schmutzige Hände. Als Rane in die Schule kam, waren Veikko und ich oft allein zu Hause, weil Vati etwas vorhatte. Einmal hat er uns gesagt, wir sollten uns unter dem Sofa verstecken, während er fort war, damit die Zigeuner uns nicht stehlen. Dort hat Mutter mich dann gefunden, schlafend und mit nasser Hose. Ich habe immer wieder gebetet, dass sie zu Hause blieb und nicht mehr in den Laden ging, aber es hat nichts geholfen. Warum hat Mutter nicht gesehen, wie sehr ihre Kinder sie brauchten? Wieso hat sie Vati nicht zur Arbeit gezwungen oder sich von ihm scheiden lassen?
Manchmal, wenn der Kaufmann verreist war, durften Veikko und ich hinten im Laden sitzen und auf gebrauchtem, gelbwei-
ßem Einwickelpapier malen. Ich habe immer Prinzessinnen gezeichnet, die goldene Locken hatten wie ich, und wunderschöne Kleider. Wenn ich mir im Fernsehen Schönheitskon-kurrenzen ansah, war meine Favoritin immer die mit den schönsten Kleidern. Sirkka brachte manchmal alte Illustrierte mit, in denen elegante Frauen abgebildet waren, und wenn sie sie ausgelesen hatte, durfte ich mir die Schönsten als Anziehpuppen ausschneiden. Wenn Rane sie fand, nahm er sie mir weg.
Als ich neun war, ging Sirkka nach Kuopio zur Handelsschule.
Von da an hatte ich ein hartes Leben. Ich musste Mutter beim Spülen und Waschen und Putzen helfen und mir auch noch ständig anhören, wie faul ich sei. Von den Jungen wurde nichts verlangt. Noch bevor ich aufs Gymnasium kam, musste ich eine kleine Erwachsene werden. Ich durfte nie wirklich Kind sein, und deshalb habe ich lange gebraucht, um mein inneres Kind zu finden. Mein inneres Kind weint noch immer, aber eines Tages wird es das Lachen lernen.
Warum hat Mutter nicht eingesehen, wie schwer ich es hatte?
Weshalb musste sie mich anbrüllen, sobald sie zur Tür hereinkam, nur weil ich noch nicht gespült hatte, sondern mit meinen Anziehpuppen spielte? Der Bus vom Kirchdorf fuhr so ungünstig, dass Mutter erst nach sieben zu Hause war, wenn sie nicht bei jemandem mitfahren konnte. Den Führerschein hatte sie nicht. Vati und die Jungen wollten ihr Abendessen schon um sechs, und meistens war ich diejenige, die es
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