Lehtolainen, Leena
abgezehr-tes Gesicht geht mir nicht aus dem Sinn, und ich versuche, es mir im Tod auszumalen. Hast du sie noch gesehen?«
»Nein, ich nicht, aber Sirkka.«
»Ich habe noch nie einen Toten gesehen, außer … außer Vater.«
Veikko schweigt. Im Hintergrund höre ich das Fett in der Pfanne zischen.
»Ich habe heute zwei Gedichte für Mutter geschrieben. Ist es nicht ein Wunder, mit welcher Begabung wir gesegnet sind?
Aus aller Qual entsteht Kunst, so wie deine Bücher auch.«
»Das würde ich nun nicht sagen.«
»Aber so ist es doch, nur durch Leid entsteht große Kunst!
Beethoven war am Ende seines Lebens taub und hat trotzdem phantastische Musik komponiert, und überhaupt, denk doch nur an die vielen großen Künstler, die krank geworden und gestorben sind oder sich das Leben genommen haben …«
»Statistisch kommen Tuberkulose und Selbstmord bei Künst-lern auch nicht häufiger vor als bei anderen Menschen«, sagt Veikko trocken wie verstaubter Zwieback. »Wolltest du etwas mit mir besprechen?«
»Ich wollte dir nur sagen, wie schrecklich ich es finde, dass wir schöpferischen Menschen immer wieder falsch verstanden und totgeschwiegen werden. Wenn ich nur an diese entsetzliche Frau denke, die über dein letztes Buch geschrieben hat, sie hätte die Nase voll von betrunkenen Männern, die über betrunkene Männer schreiben! Man darf doch der Kunst keine Schranken setzen!«
»Na ja, ich weiß nicht.«
»Aber ist das nicht Faschismus? Denk doch nur mal an diesen wundervollen bildenden Künstler, diesen begabten jungen Mann, der ein für alle Mal als Katzenmörder abgestempelt wurde, dabei ist er so sexy! Für verwegen aussehende Männer habe ich immer eine Schwäche gehabt. Muss die Kunst nicht
…«
»Meine Pilze brennen an. Mach’s gut!«
Veikko legt auf. Ich hasse es, wenn jemand mitten im Gespräch den Hörer auflegt. Veikko hat mich mal wieder total abqualifiziert. Er hält sich für etwas Besseres mit seinen miefigen Büchern. Dabei werden sie nur veröffentlicht, weil die Verlagslektoren Männer sind und Manuskripte bevorzugen, die das Leben von Männern schildern. Empfindsamkeit und Verletzlichkeit sind unmodern, und wenn in einem Buch Frauen vorkommen, sind sie irgendwelche Superheldinnen, die immerzu mit der Pistole herumlaufen, oder Singles, die wahllos mit jedem schlafen. Alles ist so schmutzig!
Ich lasse mir ein aromatherapeutisches Bad ein, es ist noch genug Lavendelöl da. Ich habe zwar nur eine Sitzwanne, aber das ist besser als nichts. Wenn ich das Licht ausmache und mich zusammenkauere, kann ich mir vorstellen, wieder in der Gebärmutter zu sein. Ach, Mutter!
Aber die eine Frage lässt mir keine Ruhe: Warum habe ich so wenige Erinnerungen an jenen Abend?
Ich erinnere mich, wie ich in der Küche stand, die Tür war offen, es war kalt, und mein weißes Nachthemd flatterte mir um die von Gänsehaut überzogenen Beine. Warum war ich an der Küchentür? Wohin bin ich von dort aus gegangen? Ich werde leicht ohnmächtig, wenn ich unangenehme Dinge höre, oder wenn nicht direkt ohnmächtig, dann doch so schwach, dass ich mich nicht auf den Beinen halten kann und kein Wort mehr hervorbringe. So war ich schon als Kind. Dann erinnere ich mich noch, wie Sirkka mit den Kindern abfuhr, Katja trug einen leuchtend gelben …
VIER
Katja
… Mantel, auf den ich sehr stolz war, obwohl ich mich immer in Acht nehmen musste, wenn ich ihn anhatte. Es war ein Früh-lingsmantel, Mutter hatte ihn von einer Kollegin bekommen, deren Tochter plötzlich in die Höhe geschossen war. Den gelben Mantel hatte ich auch auf Großvaters Beerdigung an, denn Mutter meinte, Kinder bräuchten kein Schwarz zu tragen. Dabei hätte ich gern schwarze Kleider gehabt wie alle anderen auch.
Ich habe Ranes Briefe immer wieder gelesen, und sie haben mir viele kleine Bruchstücke ins Gedächtnis gerufen. Jetzt kann ich mich wieder an den Muttertagsmorgen 1977 erinnern, vor mehr als zwanzig Jahren. Als Mutter uns weckte, glaubte ich, wir würden Großmutter das Frühstück ans Bett bringen und ein Lied für sie singen. Aber Mutter sagte, wir müssten uns schnell anziehen, das Taxi warte schon. Großmutter und Großvater seien krank geworden und wir würden nach Hause fahren. In der Stube saß ein fremder Mann in Polizeiuniform.
»Ich bin kein Mörder, auch wenn ich mich gelegentlich geprü-
gelt habe. Der Schnaps ist schuld, und er hat auch meine Erinnerung ausgelöscht. Ich kann mich nicht entsinnen, zugeschlagen zu haben.
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