Lehtolainen, Leena
aber auch wenn er schüchtern war. Ich hatte einmal ein Interview mit ihm im Radio gehört und mich gewundert, wieso sein Tenor zum Bass abgesunken war. Die Satzmelodie und die Wortwahl waren mir vertraut gewesen, die Stimmlage nicht.
»Erzähl Sara noch nichts davon«, bat Mutter. »Sonst bringt sie wieder alles durcheinander.«
Veikko schwankte leicht, als er wieder nach draußen ging.
Kaitsus Lachen zog meinen Blick zum Fenster, und ich sah, wie er Veikko die Flasche hinhielt. Ich musste schlucken.
»So waren sie immer schon, die Liimatainen-Männer«, kom-mentierte Mutter trocken. Sie rechnete auch Kaitsu zu den Liimatainen-Männern, obwohl wir mit Nachnamen Tiainen hießen. Sara wiederum hatte ihren Familiennamen von klein auf gehasst und vor zehn Jahren den Mädchennamen ihrer Urgroß-
mutter angenommen: Selin. Gleichzeitig hatte sie das zweite a aus ihrem Vornamen gestrichen, aber Veikko und Mutter schrieben immer noch »Saara«.
Kaitsu hatte viel mehr Ähnlichkeit mit Mutter als ich. Er hatte ihren zierlichen Körperbau, dazu helle Haut, blonde Haare und blaue Augen. Ich kam nach meinem Vater, hieß es, ich war dunkelhaarig, grobknochig und breitschultrig.
Mutter war nicht zum Reden aufgelegt. Wir sahen uns die Nachrichten an, während die Männer in der Sauna waren, und sie sagte kein Wort, nicht einmal, als berichtet wurde, dass Prinzessin Margaret wieder im Krankenhaus lag. Im Allgemeinen sprach sie von den Angehörigen der Königshäuser und Prominenten, als wären sie persönliche Bekannte. Wenig später kamen Veikko und Kaitsu aus der Sauna zurück und schwiegen ebenfalls. Ich holte eine Flasche Johannisbeersaft aus dem Schrank und kämpfte mit dem Drang, einen Schuss Schnaps darunter zu mischen. Sara schlief immer noch. Auch in der Sauna sagte Mutter kein Wort. Ich erinnerte mich an die vielen Maie, die ich mit Großmutter hier gesessen hatte. Sie hatte mir mit einer runden, harten Plastikbürste die Kopfhaut geschrubbt, und ich hatte mich gerächt, indem ich statt des Saunaschwamms dieselbe Bürste genommen hatte, um ihr den Rücken zu waschen. Viele kleine Erlebnisse kamen mir in den Sinn, zum Beispiel der Geschmack der Limonade, die es an Kaitsus Geburtstag gegeben hatte und die in der Sauna warm geworden war. Nur an das dramatischste Ereignis meines Lebens hatte ich keinerlei Erinnerung.
Ich hatte es erst in dem Sommer erfahren, in dem ich konfirmiert wurde, natürlich von Sara. Angeblich hatten wir Kinder fest geschlafen, als es passiert war, und am nächsten Morgen hatte Mutter uns früh geweckt, war mit uns in den ersten Überlandbus gestiegen und hatte uns vorgeschwindelt, Großvater und Rane seien beim Angeln. Zu Hause hatte sie uns ein paar Tage später erzählt, dass Großvater gestorben war. Rane kam nicht zur Beerdigung, es hieß, er sei nach Schweden gegangen wie unser Vater. Ich malte mir aus, wie er Vater von dort zurückbringen würde. Rane wurde mein Held.
Als wir aus der Sauna kamen, saß Sara am Küchentisch und aß vom übriggebliebenen Hefegebäck. Ihre Augen waren geschwollen, und die Haare standen wirr in die Höhe. Sie waren neuerdings wieder blond. Vor ein paar Jahren hatte Sara sie schwarz gefärbt und behauptet, so sähen wir aus wie Schwestern. Sie war nur zwölf Jahre älter als ich.
»Der Hefezopf schmeckt herrlich, Sirkka. Hast du den selbst gebacken? Darf ich noch ein Stück nehmen?«
»Ich wollte den Rest eigentlich für die Kollegen mitnehmen«, antwortete Mutter säuerlich. Ich verzog mich, putzte mir die Zähne und machte in der Wohnstube das Bett zurecht. Dann nahm ich zwei Schlaftabletten und knipste das Licht aus. Wieder packte mich die Angst, die Schlaftabletten würden nicht wirken, ich würde mich die ganze Nacht herumwälzen und die Schreie in meinem Kopf hören. Doch die Furcht löste sich bald in Dunkelheit und Stille auf.
Als ich die Augen aufschlug, war es acht. Im Badezimmer brummte Veikkos Rasierapparat. Es war ein faszinierendes und zugleich furchterregendes Geräusch, das ich zu Hause nie gehört hatte. Kaitsu hatte sich spät entwickelt, erst mit sechzehn waren ihm die ersten Barthaare gewachsen, und damals wohnte ich schon mit Karri zusammen.
Die Geräusche in Großmutters Haus waren mir deutlich in Erinnerung geblieben, sie waren anders als bei uns zu Hause.
Das Haus stand inmitten der Felder, man hörte nur die Kühe des Nachbarn. Nach Großvaters Tod hatte sie die Felder zunächst verpachtet und später dann verkauft, weil Sara
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