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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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den Berlinern wegen seiner Fassadengestaltung »Khomeinis Rache« genannt, die endlich einmal stille Friedrichstraße hinunter, vorbei an der Baulücke rechterhand, die noch vom Krieg herrührt, am Hotel Adria vorbei, das immer mehr zu einem düsteren zwielichtigen Schuppen verkommt, umschweben respektlos den bronzenen Brecht auf seiner Bank vor dem Berliner Ensemble, er beobachtetuns listig aus den Augenwinkeln, stellt sich aber tot, eine bewährte Strategie, die nicht jedem freisteht. Entweder ganz oder gar nicht, sage ich zu Kora, die mir beipflichtet und sich, ein tröstlicher Schatten, an meiner Seite der Spree nähert.
    Dort steht, umschlungen, ein Paar. »Pärchen« wäre falsch, dieses Paar ist nicht blutjung, auf Anfang bis Mitte Dreißig schätze ich beide. Ihre Kleidung allerdings, das wird mir beim Näherkommen deutlich, verweist sie auf ein früheres Jahrzehnt, an den Hüten kann man es erraten. Dreißiger Jahre, sage ich zu Kora. Die sieht das auch so. Hinter dem Paar schweben wir über die Weidendammer Brücke. Am Preußischen Adler bleiben die beiden stehen, lehnen sich über das gußeiserne Geländer und blicken hinunter in die Spree. Ich, dicht neben der sehr reizvollen jungen Frau – daß sie mich nicht sehen kann, versteht sich merkwürdigerweise von selbst –, ich blicke ihr ins Gesicht und erschrecke, wende mich zu meiner Begleiterin: Aber das ist doch – Kora legt den Finger auf die Lippen. Ich soll schweigen.
    Ich schweige. Ich falle in eine tiefe Verwirrung, da die Zeitebenen einander heillos durchdringen, aber wieso heillos. Mit den beiden, die ich zu kennen meine, aber nicht nennen darf, weil ich sie mit ihrer Namensnennung in Gefahr bringen würde – mit diesen beiden Ungenannten nähere ich mich der kleinen Grünanlage jenseits der Spree, die jenesfür Unberechtigte unzugängliche flache Gebäude umgibt, das sie den Tränenbunker nennen, ich denke, ja, natürlich, hierher streben die beiden, sie wollen fliehen, das ist mir auf einmal klar, sich durch diesen Ausgang in Sicherheit bringen, ein Glück, daß es ihn gibt, hoffentlich haben sie gültige Visa, hoffentlich ist noch nicht Mitternacht, dann ist doch der Grenzübergang geschlossen. Da trifft es mich wie ein Schlag: Was wollen die denn drüben, der Mann ist als Jude doch drüben genauso gefährdet wie hüben, wo leben die denn, und wo lebe ich, in welchem Zeitalter. Ich rufe: Kora!, aber sie ist weg, ich rufe: Verlaß mich nicht!
    Nein, nein, sagt eine Stimme. Dies ist weder Kora Bachmann noch Schwester Christine, dies ist ein ganz anderes Wesen, das im gefilterten Morgenlicht mitten in meinem Zimmer steht, an mein Bett tritt, mir eine breite, schwammige Hand gibt, mir nachdrücklich, ein wenig nuschelnd, einen guten Morgen wünscht und dann, indem sie – ja, es ist ein weibliches Wesen – sich um ihre eigene Achse dreht, gründlich einen jeden Gegenstand in meinem Zimmer mustert, mich eingeschlossen, zustimmend, will mir vorkommen. Sie sagt: Ich bin die Elvira, zerrt mit Getöse den leeren Abfalleimer aus der blechernen Ummantelung heraus, bringt ihn auf den Flur, um ihn zu leeren, kommt schnell zurück, um, wiederum unter erheblichem Lärm, den Eimer in sein Gehäuse zurückzubugsieren, trittwieder an mein Bett, gibt mir wieder die Hand: Alles Gute auch, und tschüs! Ich sehe die Deformation in Elviras Gesicht, ich spüre den laschen Druck der unförmigen Hand, irgendein Formwille hat sich in ihrem Körper nicht durchsetzen und ausdrücken können, aber etwas wie Sympathie durchschimmert ihre Gesichtszüge. Ich sage: Danke, Elvira. Und tschüs. – Bis später dann, nicht? sagt Elvira. Ich sage: Ja. Bis später.
    Schwester Christine ärgert sich, daß sie es nicht hat verhindern können, daß Elvira so früh schon zu mir hereingetigert kam. Sie habe ihr gesagt, sie solle mich schlafen lassen, aber sie ist neugierig, wissen Sie, man kann sie nicht bremsen. Schwester Christine will selber nach den beiden Tropfflaschen sehen, sie will die beiden Drains, die aus der Bauchwunde herauskommen, selber kontrollieren, die Beutel auswechseln, in denen sich die Flüssigkeit sammelt. Dann überläßt sie die Patientin Schwester Margot, die ein wenig zu dick ist, ein wenig zu laut auftritt und jetzt, am frühen Morgen, schon nach Schweiß riecht, wenn sie sich über sie beugt, um sie zu waschen. Sie spricht, zu laut, von ihr in der Mehrzahl: Das werden wir gleich hinter uns haben, das Bein können wir doch ein bißchen anheben, wie? Wir

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