Leibhaftig
können. Während die Schwester und der Pfleger ihr Arme und Beine anschnallen, flüstert sie der dunklen Frau zu: Jetzt habe ich Ihren Vornamen vergessen. – Kora, flüstert sie zurück. – Ja. Das muß so sein. – Kora flüstert: Ich spritze Sie jetzt in den linken Arm, dann schlafen Sie ein. Träumen Sie gut.
Schlachtopfer Menschenopfer lasterhaft frevelhaft
Ist es gleich bei diesem ersten, oder ist es beim zweiten, dritten und vierten Mal in den nächsten Tagen, daß ich als wohlgestalter junger heiterer blonder Mann aus dem Fenster unserer Wohnung in der Friedrichstraße klettere, das sich sofort und endgültig hinter mir schließt, so daß ich wehenden Haares, mit Jeans und einem hellblauen Hemd bekleidet, draußen auf dem schmalen Sims stehe, der das Haus umläuft, wenig, sehr wenig Grifffläche für meine Finger finde, mich Zentimeter um Zentimeter nach links bewege, auf den Balkon der orthopädischen Praxis zu, welcher mir, der oder die ich, anscheinend von keiner Menschenseele bemerkt, über dem tosenden Verkehr der Friedrichstraße hänge, als einzig denkbare, wenn auch unwahrscheinliche Rettungsmöglichkeit erscheint. Das Bild wird abrupt ausgeblendet. Der da jetzt so laut meinen Namen ruft, das kann doch mein Retter nicht sein, aber er hat mich wohl befreit, nun schafft er es, mich wach zu kriegen, natürlich höre ich ihn, laut genugschreit er ja, jetzt soll ich gegen den bleischweren Widerstand die Augenlider heben, während er nicht aufhört, mich anzuschreien, ob ich ihn höre. Ja, Herrgott noch mal, ich höre ihn. Endlich gelingt es mir, den Kopf leicht nickend zu bewegen, was dem Mann zu genügen scheint. Jetzt sehe ich ihn. Es ist der von den drei Ärzten, der keinen Garten haben wollte, der Lange, Mittelblonde mit den wasserblauen Augen. – Sie ist wach. Wollen wir noch warten. – Wir warten noch: eine zweite Stimme, von der Fensterwand her. Wachstation, begreife ich. Zone der dritten Person. – Tupfen Sie ihr das Gesicht ab, seien Sie mal so freundlich. Befeuchten Sie ihr mal die Lippen. Reicht ihr Tropf noch aus?
Ich als junger blonder Mann auf dem Sims da draußen bin dem Balkon um keinen Millimeter näher gerückt. Ich muß entweder wieder einschlafen, was ich so gerne täte, oder aus mir heraustreten. Sie scheinen miteinander beschlossen zu haben, mich nicht einschlafen zu lassen, ehe ich nicht ein Wort gesprochen habe, am liebsten das Wort »ja«. – Sind Sie wach? Bitte antworten Sie! – Nur ich und der junge Mann da draußen auf dem Sims, wir wissen, wie tief ein Wort in einem Körper vergraben sein kann, welche Hindernisse ein Laut zu überwinden hat, ehe er den Kehlkopf passieren, mit dem Atem den Mund verlassen kann. Unter Rasseln und Räuspern bringe ich etwas hervor, das sie, die guten Willens sind, für ein »Ja« nehmen können. Jadoch, ich bin ja wach, aber ich will es nicht sein, und nun lassen sie mich auch wieder einschlafen. Flugs begebe ich mich zurück auf den Sims, als sei das nun ein für allemal mein Lieblingsort auf Erden, und da hänge ich, angeklammert, in einen jungen schönen männlichen Körper verbannt, der aber, wenn ich meine Lage unvoreingenommen betrachte, zum Tode verurteilt ist. Er hat keine Chance, sagt eine Stimme zu mir, ich frage: Wer, Urban? und höre die Stimme: Wer sonst. – Das ist Renate. Wann hat sie so zu mir gesprochen. Das muß doch gewesen sein, als sie mir, tonlos, am Telefon gesagt hatte: Sie finden ihn nicht... – Willst du herkommen, hatte ich sie gefragt, zögernd, wir hatten uns jahrelang nicht gesehen, bemerkenswert, wie man sich in diesem kleinen Land aus dem Weg gehen kann. Sie kam. Die Fremdheit zwischen uns blieb, es war ein mühsames Gespräch, aber ich erfuhr, Urban war nach einer Versammlung in seinem Institut, in der er scharf kritisiert worden war, scheinbar ruhig zu seinem Auto auf dem Parkplatz gegangen und weggefahren. Einmal sagte Renate: Er hatte keine Chance. Ich verstand, aber ich sagte nichts. In Bruchteilen von Sekunden hatte ich alles begriffen, sah alles voraus und wußte, daß eben dies seine letzte Chance war: weg zu sein, unauffindbar. Ich spürte die alte Zuneigung zu ihr wieder erwachen, und gegen Urban etwas wie Zorn: ihr das anzutun.
Viel, viel später hat Renate mir erzählt, daß nach einer der Operationen, die noch an mir vorgenommen wurden, ihr Bruder, ein Arzt, zu ihr gesagt hat: Deine Freundin hat keine Chance. Daß sie, Renate, in Tränen ausgebrochen war und ihn angeschrien hatte: Wenn denn
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