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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ungegliederten Zeit sagt der Chefarzt: Wir glauben sie jetzt zu kennen. So hat es also doch einen Sinn gehabt, daß die zwei Mädchen aus dem Labor – groß und blond die eine, klein und dunkel die andere – ihr alle nasenlang in das Ohrläppchen oder in die Fingerkuppe gepiekt und ein paar Tröpfchen Blut herausgequetscht, herausgesaugt haben oder daß der Stationsarzt – jener mit dem schwarzen Bartring um Mund und Kinn – ganze Röhrchen voll Blut aus ihren Armvenen zieht, die er, tadelnd und zunehmend sorgenvoll, »gerade noch brauchbar« nennt. Wenn nur nicht der Oberarzt, der keinen Garten haben will, ein bleicher langer farbloser Mensch, den sie erst allmählich in die Ärztehierarchie einzuordnen lernt und an dem sie etwas wie Skepsis wittert, die ihr nicht zusagt, ja, die ihr unbekömmlich ist – wenn er nur nicht den Satz hätte fallenlassen: Hauptsache, wir kriegen das Medikament rechtzeitig heran!
    Dies war nun ein Einbruch in ihre Abzeitigkeit und Schonzeit, den sie schlecht ertrug. Was hieß »rechtzeitig«, und von woher mußte das Medikament herbeigeschafft werden. Während der Stationsarzt, erklärungsfreudig, sagt, man müsse sie einkreisen, wissen Sie, diese Erreger! Und der Chefarzt, der sich, wie ihr scheint, in immer kürzeren Abständen neben ihrem Bett aufbaut, ein ums andere Mal beteuert, er sei ganz sicher, daß sie das richtige Mittel herausgefunden hätten. Sie setzten alles ein.
    Ich will mir merken, daß sie nicht auf der gleichen Erde leben wie ich. Daß sie mich liegen sehen, aber nicht wissen, nicht einmal ahnen können, wo ich in Wirklichkeit bin. Daß sie am Anderen Ufer jenes Flusses stehen, der keinen Namen hat, und ihre Stimmen kaum zu mir herüberdringen, meine Stimme sie gewiß nicht erreicht. Daß ich dem Augenblick, in dem jede Maske, jede Verstellung abfällt und nichts bleibt als die nackte Wahrheit, die allerdings Leiden heißt, einen Hauch von Genugtuung abgewinne: So ist es also. Daß mir flüchtig der Gedanke durch den Kopf geht, ob es mich vielleicht deshalb an diese Grenze getrieben hat, damit ich gerade das habe erfahren sollen. Oder wollen. Daß also Wollen und Sollen an ihrer Wurzel dasselbe sind. Nun bewege ich mich im Wurzelbereich. Was ich jetzt sehe, gilt. Und ich werde es bald vergessen haben.
    Redet man in der Narkose? fragt sie Kora, die auf dem Bettrand sitzt. Die versteht, was sie meint: Ob man sich verrät. Nein, sagt sie, sie könne nicht einmal sicher sagen, ob man träumt. Wir versuchen ja, so zu dosieren, daß Sie genau auf der Grenze schwimmen, nicht zu tief betäubt, doch ganz sicher nicht zu flach. – Ich weiß, sage ich: schwebend. – Sie erinnert sich nicht an unseren nächtlichen Flug, sie behauptet, kaum je in Berlin, jedenfalls noch nie in der Friedrichstraße gewesen zu sein, sie sei eine typische Provinzpflanze. Sie schwindet, gerade noch kann ich sie fragen, vielleicht zu leise: Was ist Menschenglück?, da steigt, als sei diese Frage ein Losungswort, ein Gesicht aus der Dunkelheit auf, jung, reizvoll, sprühend, aber das Gesicht kenne ich doch, das ist die Frau, die mit dem Mann an der Spree gestanden hat und dann über die Weidendammer Brücke gegangen ist, in jener Nacht, als ich mit Kora die Friedrichstraße entlangschwebte, das ist das Gesicht meiner Tante Lisbeth als junge Frau, vor fünfzig Jahren, als ich ein Kind war. Ist sie nicht tot? Und warum geht sie auf unser Nachbarhaus zu, das von einer Bombe zerstört wurde, das sich aber wie selbstverständlich in der Lücke, die es hinterlassen hat, wieder aufgebaut hat. Ich folge meiner Tante, die vor mir die Treppe hochgeht, warum ist diese Treppe unbeschädigt, gepflegt, mit einem roten Teppich belegt, und das Geländer, holzgeschnitzt, glänzt und funkelt, als die Sonne durchdas Flurfenster scheint, das noch alle seine schönfarbigen Jugendstilscheiben hat. Also ist noch kein Krieg gewesen. Ich folge der jungen Frau, die meine Tante war, drei Treppen hinauf in den dritten Stock, wo sie vor einem bescheidenen Arztschild anhält und klingelt: Dr. med. Alfons Leitner. Ein Mann in weißem Kittel öffnet ihr, ich sehe, wie sie sich begrüßen und wie er die junge Frau höflich in sein Sprechzimmer führt. Dieser Arzt hat keine Sprechstundenhilfe. Er lädt sie ein, Platz zu nehmen und ihm den Grund ihres Besuches zu nennen, und läßt sie reden über vielfältige Beschwerden, auch darüber, daß ihr Arzt, Doktor Levy, gerade in Urlaub sei. Doktor Leitner sagt, er habe sie schon

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