Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
wirklich nur ein Prozent der Patienten bei diesem Infekt davonkämen, dann werde eben ich, ihre Freundin, das eine Prozent sein. Worauf ihr Bruder leicht die Achseln gezuckt habe: Wie du meinst. Er jedenfalls habe gerade einen Fünfzehnjährigen an dem sich unaufhaltsam in seinem Bauch ausbreitenden Eiterungsprozeß sterben sehen. Dieser Fünfzehnjährige saß dann in mir fest, nachdem ich von ihm erfahren hatte, als schulde ich ihm etwas, vielleicht gar sein Leben, als sei ich an seiner Stelle gerettet worden.
    Vorgriff auf eine Zeit, in der das Wort »Zeit« wieder einen Sinn haben, in der Zeit vergehen, sich bündeln oder ausbreiten wird, in der es Zeitgitter geben wird, Zeitgewinne und Zeitverluste, Zeitabschnitte, Zeitpunkte und Zeiträume, Zeitmessung und Zeitfestsetzung, Halbzeiten und Verfallszeiten, in der es ein Vorher und ein Nachher geben wird, Tage, die aus Morgen und Abend werden, Gleichzeitigkeiten und Zwischenzeiten, in der ich mich zeitweilig absondern, dann wieder zeitgenössisch betragen, beizeiten anwesend sein, immer zur rechten (oder unrechten) Zeit kommen werde, in der ich mir Zeit lassen oder begreifen würde, daßes allerhöchste Zeit sei, den rechten Zeitpunkt treffen oder mich zur falschen Zeit einmischen konnte, mich wie ein Vorzeitfossil empfinden, an das neue Zeitalter glauben oder im Gegenteil die Endzeit für gekommen erachten würde.
    Jetzt aber gelten weder Urzeit noch Vorzeit, nicht die gute alte Zeit und erst recht nicht die nüchterne Jetztzeit, keine Neuzeit, keine Probezeit und kein Zeitgeschehen. Alle meine Zeitlichkeit ist in Zeitlosigkeit versunken, meine Zeit verstreicht mir als Unzeit, direkt aus dem Operationssaal ist sie mit ihrem Krankenhausbett in eine Zeitlücke hineingeglitten, die von bleichem Zwielicht und Gesichten erfüllt, aber keiner Zeitrechnung unterworfen ist und in die auch die Gesichter, die abwechselnd auftauchen, und die Stimmen, die sie hört, keine Ordnung bringen können. Es gibt keine Rechtzeitigkeit mehr und kein Versäumnis, es gibt eine Befreiung vom Zeitgeschehen, das wird nur der bezweifeln, der es noch nicht erfahren, der sich noch nicht mit letzter Kraft an der Zeitgeraden entlang vorwärts geschleppt hat. Denn das Festklammern an einem schmalen, sehr schmalen Mauersims bedeutet ja eine starke Anspannung, gerade die Unmöglichkeit, sich auch nur um Millimeter zu bewegen, kostet viel Kraft. Kraftlos, entschluß- und verantwortungslos bin ich aus dem Zeitnetz gefallen. Zeitlos läßt sich zwar manches sagen: Ja, ich bin wach, ja, ich habe Schmerzen, nein, unerträglich sind sienicht – aber erzählen läßt sich nichts ohne Zeit. Das Erzählen habe ich aufgegeben, zugleich mit dem Wissen, Fragen, Urteilen, mit dem Behaupten, Lehren und Verstehen, dem Begründen, Folgern und Entdecken, mit dem Messen, Vergleichen und Handeln. Mit dem Lieben und Hassen.
    Nicht aufgegeben hat ihr Körper das Lernen, unaufhörlich lernt er ohne ihr Zutun in dieser bleichen Zwischenwelt, lernt tage- und wochenlang bewegungslos auf dem Rücken liegen, lernt den Arm stillhalten, der durch Schläuche an die Tropfbehälter angeschlossen ist, lernt den Kopf ganz wenig rühren, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen, lernt sich aus den Flüssigkeiten ernähren, die in seine Adern gespült werden. Er lernt sich in ungünstiger Lage am Leben zu erhalten, während das Gehirn, wohl um ihm nicht in die Quere zu kommen, seinen Betrieb eingestellt, sich abgeschaltet hat, ganz den Körpersignalen zugewandt, bis auf eine Ausnahme: das Erinnern. Oder jedenfalls seine rudimentären Formen. Nicht daß ich beliebig mein Gedächtnis anzapfen könnte. Doch an der festen Scholle in dem Meer von Unbewußtem, auf der ich mich halte, treiben Erinnerungsbrocken vorbei, ungerufen und unregulierbar. Zum Beispiel das Licht in ihrem Flur, als sie den roten Telefonhörer auflegte, noch Renates Worte im Ohr: Hannes ist weg. Vormittagslicht, das durch die offene Tür des großen Zimmers auf den Flur fiel. Ich weiß noch, daßich dachte: Das haben die jetzt wieder mitgehört. Und dann: Die wissen es sowieso. Und schließlich: Müßte ich ihn nicht suchen? – Entschieden sagtest du: Nein.
    Unaufhörlich, in jeder einzigen Sekunde, muß ein Kampf in mir stattfinden, mein Körper ergreift Abwehrmaßnahmen gegen jene Angreifer, nach denen man im Labor so fieberhaft gesucht hat, die der Pathologe »besonders bösartig« nennen wird, schon genannt hat, nur nicht zu ihr, irgendwann in dieser

Weitere Kostenlose Bücher