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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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manchmal gesehen, wie sie auf der Straße hin- und hergegangen sei. Er muß viel Zeit haben, von seinem Erkerfenster aus die Friedrichstraße auf- und abzuschauen. Er hat das Wesentliche gesehen: daß sie eine unglückliche Frau ist. Ob sie nicht wisse, sagt er jetzt, daß sie Unannehmlichkeiten bekommen könne, wenn sie zu einem jüdischen Arzt gehe, und sie, leichthin, traumwandlerisch, erwidert, ach was, ihr bisheriger Arzt sei ja auch Jude, nur eben jetzt in Urlaub. Und Doktor Leitner, jung, jung scheint er mir, sagt mit feinem Lächeln, Doktor Levy sei nicht in Urlaub, er werde nicht wiederkommen. Lisbeth aber, Anfang Dreißig, erwidert nur: Ach so? Nun, dann behandeln Sie mich eben, nicht wahr, Herr Doktor? Und er, Doktor Leitner,höflich: Wenn Sie es wünschen, gnädige Frau? – Ja, sagt Lisbeth. Ja, sie wünsche es.
    Ich aber, diese Szene vor Augen, die mir aus sicherster Quelle geschildert wurde, das aufs äußerste bedrohte Liebespaar, ich habe nun gutbösen Grund, in Schweiß auszubrechen, Angstschweiß, denn auf dem gleichen Stockwerk mit dem jüdischen Arzt Doktor Leitner, der Arier nicht mehr behandeln darf, wohnt ja jene Nachbarin, die ihn abpaßt, um ihn davon zu unterrichten, daß gerade ein Jude durch die Straßen getrieben worden sei, ein Schild um den Hals: Ich habe mit einer deutschen Frau Unzucht getrieben, ob er das wisse, und Doktor Leitner, immer höflich, erwidert der Frau: Er könne es sich vorstellen. Ja, aber – sage ich zu ihm, Jahrzehnte später, und er: Er habe nicht mehr am Leben gehangen. Lisbeth aber, meine Tante Lisbeth, habe jede Warnung in den Wind geschlagen. Sie war so glücklich, wissen Sie. Sein beinahe verlegenes Lächeln. Übrigens habe jene Nachbarin sie nicht denunziert. Und ich, schweißgebadet – ist es schon wieder Nacht? Habe ich geschlafen? Schlafe ich jetzt? –, ich habe mir vorzustellen: Lisbeth im Hochparterre. Doktor Leitner im gleichen Haus im dritten Stock. Dieses Hin und Her auf den Treppen, denn sie muß ihm ja Essen bringen, auch Kuchen, wie ich höre. Mir schaudert.
    Nun hat der Chefarzt einen seiner häufigen Auftritte, wieder kommt er, um ihr zu beteuern, erdenke, sie hätten den »Herd« jetzt beseitigt, das Fieber sei immerhin auch nicht mehr so hoch gestiegen, sie nickt zu allem und stimmt ihm zu und sagt, es gehe ihr »nicht schlecht«. Der Chefarzt scheint es nicht zufrieden, doch nickt er und geht. Übrigens könnte sie die Auftritte von Elvira, die nur einmal täglich am frühen Morgen stattfinden, als Zäsuren in ihrer zeitlosen Gegenwart verwenden, aber nun erinnert sie sich nicht, wie oft sie Elvira nach ihrem Erwachen schon gesehen hat, die sich um die eigene Achse drehte und dabei jedesmal einen jeden Gegenstand eindringlich musterte, und hatte sie ihr eigentlich gleich beim erstenmal oder später – gestern, heute – von ihrem Verlobten erzählt, mit dem sie im Heim ein Zimmer teile und mit dem gemeinsam sie die Abende vor dem Fernseher verbringe, nachdem sie schön zusammen Abendbrot gegessen hätten. Dann aber, unvermittelt und jedesmal wieder überraschend, ergreift sie ihre Hand: Also dann tschüs, und alles Gute, nicht?
    Danach erst wird es hell, obwohl wir doch auf den längsten Tag des Jahres zusteuern, jedenfalls behauptest du das. Du kannst anscheinend nur noch über das wechselhafte Wetter – die vielen Gewitter unterwegs! –, über den Schaden in der Landwirtschaft durch mangelnde oder zu reichliche Niederschläge reden, nachdem du dich, wie ich zufällig erfahre, schon wieder mit dem Chefarzt getroffen hast, so daß es wohl kein Wunder ist, wenn ihr beideimmer die gleichen Wörter benutzt, um meinen Zustand zu beschreiben, und ich, harmoniesüchtig, kann nicht umhin, diesen Gleichklang als wohltuend zu empfinden. Du stellst dich auch ans Fenster und blickst hinaus, du findest den Ausblick schön, ich bin noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß ich je die paar Schritte bis zum Fenster gehen und dort stehen und die Aussicht genießen könnte.
    Das nächste Mal, als ich Elvira sehe, weiß ich nicht, ob ich nicht eine Erscheinung vor mir habe, die sich zu den anderen Erscheinungen meines Traumlebens gesellt, das sich immerzu und immer wieder unser Treppenhaus als Ort erwählt, auch wieder Frau Baluschek, mit ihrer giftgrünen Baskenmütze, die du »unsäglich« nennst und die mich dringlich auffordert, mir doch diese Schweinerei einmal anzusehen, ich weiß schon, sie meint die große stinkende Pfütze hinter der

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