Leibhaftig
kann es nicht sein, daß der Aufbau in ihren Zellen im vollen Gange ist, daß sie es bloß nicht bemerkt?
Baut auf, baut auf – ob sie das Lied kenne, frage ich die dunkle Frau, die, ich weiß allerdings nicht, in welcher der verschiedenen Wirklichkeiten, in denen ich mich aufhalte, auf meiner inneren Bühne oder in der Außenwelt, wieder auf meinem Bettrand sitzt und, wie alle Ärzte, ihr unglückliches Gesicht zu verbergen sucht, eine Kunst, die sie nicht so gut beherrscht wie mein Chefarzt oder gar der lange bleiche Oberarzt, der von allen meinen Ärzten der undurchdringlichste und unpersönlichste ist. Nein, Kora kennt das Aufbaulied nicht mehr, es interessiert sie auch nicht, sie faßt an meine Stirn, fühlt meinen Puls und sagt: Also schon wieder!, aber ich weiß ja noch nicht, daß sie mich am nächsten Morgen schon wieder in Schlaf versetzen wird, darüber ist sie erschrocken, nun muß sie es mir sagen, aber ich soll den Chefarzt nicht merken lassen, daß ich es schon weiß, es stünde eigentlich ihm zu, mich zu unterrichten, anscheinend sei er aufgehalten worden. Ob es bei Ärzten dieses ganze Chef-, Ober- und Unter-Gehabe überhaupt gebenmüsse, überhaupt geben dürfe, frage ich sie, sie lacht ein wenig, zerstreut. Ich aber kann mich nicht enthalten, ihr mit dem Problem zu kommen, das mich beschäftigt: Ob dies alles, in das ich da hineingeraten sei, nicht auch als Strafe gedacht sein könnte. Da wird sie wütend. Wofür denn! ruft sie empört. Wo denken Sie denn hin! ruft Kora laut, daß es auf meiner inneren Bühne widerhallt. Ja, wo denke ich eigentlich hin?
Und wo denkt der Chefarzt hin, wenn er sich so auffällig um eine schonende Wortwahl bemüht, um ihr beizubringen, daß er sie noch einmal operieren müsse, das Computertomogramm habe es eindeutig ergeben, aber er wisse nun ganz genau, wo der Herd liege, er wisse auch, wie er an ihn herankomme, er könne sich das Computerbild bei der Operation anheften und sich danach richten, das sei wirklich beinahe luxuriös, solche Wörter fallen ihm ein. Sie sagt ja ja, jedesmal ja. Es tut ihm leid, aber er macht sein sachliches Gesicht, nur daß er im Weggehen seine Hand kurz auf ihre Hand legt und sie sachte drückt, das könnte ihr die Tränen in die Augen treiben. Oder daß, wie Schwester Margot es ausdrückt, »der ganze Salat noch mal von vorne losgeht«.
Endlich fällt mir ein Wort ein, welches den Sachverhalt trifft: Vergiftung, denke ich. Ich bin vergiftet. Was ich brauche, ist eine Entgiftung, eine Reinigung, ein Purgatorium. Eine Entdeckung. Daß sieso spät kommt, bleibt verwunderlich. Und daß sie so anstrengend ist. Anstrengender als die Vergiftung selbst. Die Infektion mochte früh erfolgt sein, die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit. Bleibt bloß noch, sie zu benennen. Benannt, gebannt. Wo habe ich das gehört?
Die Nacht nach der Spritze ist wüst, die Übelkeit steigt wieder auf, alle paar Minuten sieht jemand nach ihr. Irgendwann schläft sie ein. Alle Vernunft wird zunichte! wird ihr drohend und endgültig mitten in der Nacht verkündet, es gibt eine Figur, die solche Sätze ausspricht. Alles übrige kennt sie schon: Elvira, das Eimerscheppern, ihr lascher Händedruck, die Waschprozedur, die sie über die Maßen anstrengt, Schwester Christine mit dem Mullhäubchen und der Beruhigungsspritze. Na, sagt sie, einmal wollen wir denen den Gefallen noch tun, aber dann machen wir das Kaleika nicht mehr mit, das wäre ja noch schöner. Ihr blondes Kräuselhaar umgibt sehr anmutig ihr Gesicht. Sie schiebt die Patientin selbst in den OP , im Vorraum wartet diesmal eine andere Schwester, Nadeschda, auch sie versucht mit ihr zu reden, aber sie hat Hemmungen, weil ihr Deutsch nicht perfekt ist, sie sei aus Leningrad, habe hierhergeheiratet, einen Ingenieur. Sie wendet ihr den Rücken zu und zieht Spritzen auf, die Patientin sagt, Nadeschda heißt Hoffnung, es scheint die Schwester zu freuen, daß sie das weiß.
Der Chefarzt kommt, um ihr mitzuteilen, er werde diesmal von der Seite an den Herd herangehen, es werde also einen zweiten Schnitt geben. Sie findet den Mann sehr gewissenhaft, Kora Bachmann muß schon wieder ein bißchen lachen unter ihrem Mundschutz, als sie ihr das sagt, leicht lispelnd, die Zunge ist nicht so beweglich wie sonst. Sie sind die einzige, die ich manchmal lachen sehe, sagt sie zu Kora, da wird die ernst. Die drei Ärzte in Grün stehen mit erhobenen Händen am OP
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