Leibhaftig
Kriegsende den Flüchtlingen schmierte, die von Westpreußen her in unserer noch nicht von den Einwohnern geräumten Stadt Zuflucht suchten. Ob seitdem die Sehnsucht nach Sicherheit und die Einsicht, daß es sie nicht gibt, in mir gleich stark miteinander streiten?
Es kommen die anderen Gestalten, die sich an ihr zu schaffen machen, Drains kontrollieren, Tropfbehälter auswechseln, waschen, betten, das Ding,das mein Körper für sie ist. Das ist es nicht, was ich mir je gewünscht hätte, doch könnte ich mir wünschen, daß es sofort aufhört? Ich kann es nicht. Daraus geht hervor, daß Wünsche mehr Energie verbrauchen als Aussagesätze, eine Energie, die ich nicht habe.
Die Anzahl der Diagnosen, die ich dem Chefarzt nicht sagen kann, wächst. Ich hoffe, er verschweigt mir weniger als ich ihm. Da überrascht er mich. Er fragt, wobei er mich prüfend ansieht, als erwarte er tatsächlich eine Antwort: Warum ist Ihr Immunsystem derart schwach?
Diese Frage wirft er mir hin, mein Chefarzt. Weiß er nicht, daß dies ein Brocken ist, an dem ich herumzukauen habe? Hält er mich schon für so weit gefestigt? Sieht er kein anderes Mittel mehr, mich aufzuschrecken, als solche Fragen?
Er läßt sich, schon in grünem Kittel und grünem Käppchen, von Schwester Christine noch schnell über mein Fieber informieren, ich ahne – sehe nicht, er weiß sich zu beherrschen –, daß der Wert ihn nicht zufriedenstellt, nicht ganz zufriedenstellt, nie würde er deshalb eine Augenbraue hochziehen, wie der Stationsarzt, Doktor Knabe, es später tun wird, der Chefarzt sagt nur, das können wir, angesichts der stattgehabten Operation, tolerieren. Noch tolerieren, wird Doktor Knabe sagen und seine Augenbraue wieder herunterlassen. Keiner redet noch einmal von meiner Immunabwehr, nur daß das Fieberim Laufe des Tages wieder steigt, das können und wollen sie anscheinend nicht mehr tolerieren. Wäre es eine Reaktion auf die Operation, dann jedenfalls eine zu starke, auch dann nicht gesund, nicht normal, sondern ein Zeichen – sie sagen nicht, wofür. Auch der lange farblose Oberarzt, der anscheinend nachmittags Dienst hat, als die anderen gegangen sind, hält sich wortkarg.
Du bist natürlich auch schon wieder da, du hast natürlich, wie jeden Mittag, mit dem Chefarzt gesprochen, auch der scheint sich wortkarg zu halten. Das Fieber sollte sinken, das leuchtet auch mir ein, aber die Spritze will ich nicht mehr, mir wird übel danach. Ich will, wie als Kind, Wadenwickel. Der Chefarzt, der auch wieder auftaucht, obwohl er doch auf gar keinen Fall immer noch Dienst haben kann, sagt: Warum nicht. Auch er habe diese Spritze einmal bekommen, auch er habe sie schlecht vertragen, das verstehe er. Er sagt jetzt solche Gefühlswörter wie »verstehen«. Also, Schwester Thea, wenn Sie ordentlich mitmachen... Seien Sie so freundlich.
Schwester Thea nickt, sie ist neu für mich, heute erst aus dem Urlaub zurück. Klein, unscheinbar. Der Chefarzt wundert sich, auch ich wundere mich, daß er alles, was er zum Besichtigen und Verbinden meiner Bauchwunden braucht, vollzählig vorfindet, das ist uns bisher kaum je passiert. Sogar Plastehandschuhe sind da, in seiner Größe, mehrere Paar,da ein bis zwei Paar regelmäßig schon beim Anziehen reißen. Auf die Qualität haben sie keinen Einfluß. Der Chefarzt flucht nicht, das tut er nie, heute erlaubt er sich überhaupt keine Bemerkung, verzieht keine Miene, wirft die zerrissenen Handschuhe in eine Schale, die Schwester Thea auch bereithält, geschickt öffnet sie ihm ein neues Päckchen, das dritte Paar bleibt heil. Schwester Thea hat meine Wunden schon bloßgelegt, sie weiß, wieviel Flüssigkeit über die Drains abgeflossen ist, sie kann die Konsistenz der Flüssigkeit beschreiben, sie sieht voraus, was der Chefarzt als nächstes brauchen wird, Pinzette, Mull, die Desinfektionslösung, das hautfreundliche Pflaster – haben wir noch davon? Wir haben. Schwester Thea hat die Pflasterstreifen schon zurechtgeschnitten und pflückt sie von der Nachttischkante ab, ich merke es kaum, wie sie den Mull über den Wunden festklebt, schon hat sie mir das alte Nachthemd weggezogen – klitschnaß! –, schon ein frisches übergestreift. Der Chefarzt hat ihr schweigend zugesehen. Ich bedanke mich sehr, Schwester Thea, sagt er und geht.
Dann fangt ihr beide, Schwester Thea und du, mit den Wadenwickeln an. Daß die ersten verdampfen, so empfinde ich es, findet sie ganz normal. Man müsse halt Geduld haben, häufig
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