Leibhaftig
nicht vergessen, es liegt auf dem Fußende des Bettes, Schwester Margot ist tüchtig, sie hilft noch, mich auf den Tischzu heben, mit dem man mich gleich, die Arme hoch überm Kopf, in die enge Röhre des Tomographen hineinschieben wird. Der Chefarzt ist da, er hat Wort gehalten, noch einmal erklärt er mir, was sie jetzt tun werden, neben ihm steht ein anderer Arzt, er hat graumeliertes, gut geschnittenes Haar, er hat sich eine Bleischürze umgeschnallt, er wird mir vorgestellt, er gibt mir die Hand, als seien wir auf einer Party, er ist also ebenfalls ein Chefarzt, und zwar von der radiologischen Abteilung, und er wird bei mir bleiben.
Das ist aber einmal eine gute Nachricht. Nun werde ich kein bißchen mucksen, werde brav die Kommandos befolgen, die wieder von jenseits der Glasscheibe kommen, es scheint sogar die gleiche junge Frauenstimme zu sein, die mir das Atmen und das Luftanhalten befehlen darf. Die radioaktive Belastung sei in dieser Röhre viel geringer als bei den üblichen Röntgenapparaten, es handelt sich überhaupt nur um Niedrigdosenstrahlung, sonst käme es ja auch nicht in Frage, daß der Arzt im Raum bleibt, mit wieviel Blei auch immer geschützt, daß er sogar meine Hände ergreift, die am anderen Ende der Röhre nach einem Halt suchen, sie eine kleine Weile hält, dann ein Lederpolster holt, auf das ich sie ablegen kann. Besser? Viel, viel besser. Jetzt renken sich die Schultergelenke nicht mehr aus, jetzt kann ich beinahe mit Vergnügen atmen und nicht mehr atmen.
Das glaub ich wohl, daß ich das gut mache, gelernt ist gelernt, früher, ich meine: als ich jung war, denn jung muß sie doch einmal gewesen sein, hat man ihren Körper zuerst in kurzen, dann in immer länger werdenden Abständen den Strahlen ausgesetzt, zur Kontrolle, hieß es. Ich sehe das Haus vor mir, in dem diese Kontrollen stattfanden, ein altes, verwohntes Gebäude, rissig außen und innen, mit Steintreppen, schmutziger Ölfarbe an den Wänden, abgetretenem Linoleum. Ein Schiebefenster in einer Holzwand, die den Warteraum teilte und hinter der auf Zuruf meine Karteikarte herausgesucht wurde, immer Riesenräume, die durch PappmachØwände in Verschläge aufgeteilt waren, Verschläge zum Warten, Verschläge zum Ausziehen, dann der Raum, in dem die Apparate standen, vorsintflutliche Dinger, gegen deren kalte Platten sie die Brust pressen mußte, atmen, nichtmehratmen, weiter atmen. Immer etwas Angst, Restangst würde man heute sagen, und eine unvernünftige Erleichterung, wenn sie wieder auf der Straße stand, ohne Befund.
War ihr nicht nach einer solchen Kontrolluntersuchung eines Tages Renate begegnet? Sie schien verstört, jetzt erinnere ich mich, gewohnheitsmäßig fragte sie, wie es mir gehe, es interessierte sie nicht wirklich, durch eine lange häßliche Straße mit schadhaftem Pflaster und zerstörtem Bürgersteig gingen wir in Richtung Universität, vorsichtig begann ich sie auszufragen, bis sie zögernd, soals müsse sie sich entschuldigen, mit der Sprache herausrückte: Sie sei jetzt mit Urban »richtig zusammen«. Ich mußte lächeln, das war längst Gruppengespräch, aber warum sie denn so ein unglückliches Gesicht dazu mache. Unglücklich? fragte sie erschrocken und sah nun nicht mehr nur unglücklich, auch noch schuldbewußt aus. Sie war unauffällig, trotzdem reizvoll, fand aber selber nichts Reizvolles an sich und konnte es nicht fassen, daß ausgerechnet Urban, der beinahe jedes Mädchen haben konnte, sich an sie heranpirschte, auf seine seltsame Art, indem er sie nämlich häufiger als vorher, auch häufiger als uns andere kritisierte, so daß sie, unsicher sowieso, vor Unsicherheit fast dahinschwand, er aber, als sie einmal beinahe weinend aus der Gruppenversammlung gelaufen war und ich ihn zur Rede stellte, nur, höflich den Kopf vorgeneigt, fragte: Wieso, habe er sich Renate gegenüber etwa nicht fair verhalten? Fände ich vielleicht, sie sei ungerecht behandelt worden? Oder man könne Privates und Politisches voneinander trennen? Das fand ich nicht. Ich fand keine Worte für mein Unbehagen. Urban nämlich hatte es für nötig befunden zu berichten, daß Renate ihm kürzlich in einem privaten Gespräch offenbart hatte: Sie hänge immer noch an ihrer Heimat, Schlesien, obwohl sie ja selbstverständlich die Oder-Neiße-Grenze anerkenne. Ihr Gefühl hinke ihrer Einsicht hinterher, das sei ja keine Schande, sagte Urban, mantue Renate doch nichts Böses an, wenn man ihr sage, sie müsse an sich arbeiten.
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