Leibhaftig
Renate sagte gar nichts, und als sie gefragt wurde, ob sie mit dieser Einschätzung einverstanden sei, nickte sie, sehr bleich übrigens. Sie ging als erste. Ich glaube, sagte ich zu Urban, erinnere ich mich, du solltest dich jetzt um Renate kümmern. Na klar! sagte er fröhlich. Ehrensache!
Hallo, hallo, wir sind nicht mehr im Takt! Das merkt sie selbst. Sie hat sich veratmet. Macht nichts, sagt der Doktor mit der Bleischürze und berührt wieder ihre Hände, in wenigen Minuten ist sowieso Pause, wir sind schon ziemlich weit. Erst Pause? Das kann doch nicht wahr sein. Sie atmet wieder falsch, und noch einmal, die Stimme der jungen Frau jenseits der Scheibe wird ungeduldig. Noch einmal! sagt sie. Aber jetzt! Da geht es, geht auch nach der Pause, man hat sie kurz aus der Röhre hinausgeschoben, hat sie ihre Arme bewegen lassen, hat ihr gesagt, wie lange es ungefähr noch dauern werde – noch einmal so lange, das war allerdings schwer vorstellbar, der Mensch hält mehr aus, als er denkt, so sprach meine Großmutter, und hielt mehr aus, als ich ertragen würde.
Übrigens müßte ich, wollte ich je von Urban in seiner Frühzeit reden, peinlich darauf achten, ihn nicht einem billigen Verdammungseifer auszusetzen: Ha, Schurke, wir haben dich! Wir haben ihn nicht – dieser Satz hat jetzt einen fatalen Doppelsinn.Wir hatten ihn nie ganz und gar, immer ist er unserem Urteil wieder entwischt, Renate aber muß er richtig in die Zange genommen haben, er hat sie nicht mehr losgelassen, sie wußte noch gar nicht genau, was sie wollte, ob sie überhaupt etwas wollte, von ihm, mit ihm, da hatte sie auf einmal schon ja gesagt. Ich weiß selber nicht, wie, sagte sie zu mir, wir standen am Brühl, in den Auslagen gab es die ersten Pelze, wir standen vor den Schaufenstern und starrten hinein, ebensogut wie einen teuren Pelzmantel hätte man uns den Mond ins Schaufenster legen können. Aber du liebst ihn doch, sagte ich hilflos. Ich weiß wirklich nicht, sagte Renate, sie sah mitgenommen aus. Man mußte es Urban zugute halten, daß er sich dieses eher unscheinbare, doch empfindsame und treue Mädchen ausgesucht hatte, das nicht imstande war, irgendeinem Menschen etwas Böses zu tun.
Ja, sagt der Arzt in der Bleischürze – jetzt, wo er dicht neben ihrem Kopf steht, kann sie sehen, daß er nicht mehr jung ist, sein eisgraues Haar ist wie eine eng sitzende Kappe geschnitten, das macht ihn jünger, er ist braungebrannt, draußen muß ja Sommer sein, sie kann ihn sich gut mit einem Segelboot auf einem der vielen Seen vorstellen, zwei tiefe, nicht unkleidsame Falten laufen ihm von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln – ja, sagt er. Das wär’s für heute. Er hilft ihr noch auf ihr Bett hinüber, er verabschiedet sich wieder, er verbeugtsich sogar, die Party ist zu Ende. Er sagt noch: Jetzt geht es Ihnen ja wirklich nicht gut, aber das muß nicht so bleiben. Es gibt Mittel dagegen, und wir werden sie finden.
Das sind nicht die Sätze, die sie hören will und vertragen kann, wieso weiß er das nicht. Was heißt »nicht gut«, was heißt »muß nicht so bleiben«. Die reden viel, wenn der Tag lang ist, sagt Schwester Margot, aber das Unbehagen in der Magengegend hat ja nicht sie, und es löst sich sehr langsam auf, auch das kleine Radio bewirkt nicht viel, die Zeit für die alte Musik ist noch nicht gekommen, am Spätnachmittag, wenn bei den Kranken das Fieber steigt, bringen sie auf allen Kanälen, was sie »Informationen« nennen, die sie fürchtet wie die Pest und nach den ersten halben Sätzen, die meist grauenhaft genug sind, sofort abschaltet. Wo die Fähre gesunken ist, erfährt sie also vorerst nicht, auch nicht die Zahl der Opfer einer Überschwemmungskatastrophe, man mutet ihr auch zu, sich Wien vorzustellen, wo sie über die Atomraketen verhandeln, aber das kann sie nicht, alle Städte, in denen Verhandlungen über Wahnsinnsthemen stattfinden oder irgendwelche »Gipfel« tagen, werden für sie zu den abstraktesten Orten dieser Erde, durch die jedenfalls nicht gleichzeitig Fiaker fahren können. Sie will auch nicht wissen, wie hoch ihr Fieber ist, sie fragt nicht und protestiert nicht, als Schwester Margot mit der »niederschlagenden« Spritzekommt, von der sie beide wissen, daß sie sie nicht verträgt. Noch schwächer kann sie ja nicht werden, dieses stetige Tropfen von »Nährflüssigkeit« in ihre Vene muß doch etwas bewirken, vielleicht schon bewirkt haben, hat nicht der Chefarzt versprochen, sie »aufzubauen«, und
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