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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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-Tisch und schweigen. Empfangskomitee, sagt sie spöttisch. Es gelingt ihr heute nicht, irgend jemanden zum Lachen zu bringen. Wir können, sagt der Oberarzt.
    Es ist kein Versinken in Dunkelheit. Die Bewußtlosigkeit nimmt mich nicht allmählich auf. Es gibt keinen Übergang. Es gibt nur das Hiersein und das Nichtmehrdasein. Was geht da vor, frage ich Kora, was spielt sich da ab, während ich weg bin. Sie sagt: Wir wissen es nicht. Wir wissen es wirklich nicht. Wir trennen das Gehirn vom Körper, wir verhindern, daß das Gehirn die Empfindungen, die ihm gemeldet werden, registriert. Mehr wissen wir nicht. Und das Restrisiko? frage ich. Sie schweigt. Der Oberarzt sagt: Ein Restrisiko bleibt natürlich. Der Chefarzt, unwillig: Minimal. Er scheint am genauesten zu wissen, was ich hören will. Ist Sterben genauso? frage ich. Da muß nun auch der Chefarzt sagen: Wir wissen es nicht. Zu welchem Gehirn sie denn die Verbindung durchtrennen, frage ich Kora.Zum höheren Säugetiergehirn doch sicherlich, doch wohl nicht zum Reptilienhirn. So daß es durchaus möglich wäre, daß dieses die Reize, die es weiterhin empfange, ungehindert an die entsprechenden Regionen meines Körpers weitergebe und ich – ich nur als Beispiel, sage ich zu Kora, die wieder Nachtdienst hat und anscheinend nicht dauernd beschäftigt ist –, ich mich also als Reptil erfahre, natürlich ohne das Geringste von dieser Erfahrung in mein bewußtes Leben herüberzubringen, aber wer kann das wissen? Ob es auch daran liegen mag, daß ich mir immer öfter wie ein Dinosaurier vorkomme?
    Kora lächelt wieder, übrigens niemals überlegen, sie hat kein Licht gemacht, nur die viereckige Nachtlampe an der Fußbodenleiste gibt einen matten Schein. Der Vorhang am Fenster ist halb zugezogen, Wolkenschatten ziehen an einem fast runden Mond vorbei. »Füllest wieder Busch und Tal« – kennen Sie das? frage ich Kora. Sie sagt: Ich habe in der Schule keine Gedichte gelernt, wir hatten eine eklige Lehrerin. Ich merke, daß ich mir Kora nicht ohne Gedichte vorgestellt hatte. Ich muß sie umdenken. Schon wieder hat sie die ganze Zeit lang ihre Hand auf Stellen meines Körpers gelegt, wo sie ihnen gut tut, sie hat mir mit einem lauwarmen feuchten Lappen das Gesicht abgetupft, sie hat eine Decke zusammengerollt und sie mir unter die Fersen geschoben, die müßten doch allmählich wehtun. Sie tun schon seit Tagen weh, aber ich hatte gedacht, das müßte so sein. Kora kann ruhig dasitzen und die Hand auf meinem Oberarm lassen, ich stelle mir vor, daß sie wieder lächelt, und sage schläfrig: Aber Sie könnten doch meine Tochter sein, und sie sagt: Warum »aber«?, und dann zirpt ihr kleines Rufgerät, und sie meldet sich leise und sagt, sie komme sofort, und zu mir sagt sie, sie müsse jetzt gehen. Ich werde eine ruhige Nacht haben.
    Kora, die Nacht- und Mondfrau, die über meinen Schlaf wacht, sollte das Mondgedicht kennen. »Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz.« Lösen ablösen auflösen, das Wort, in dem magische Kräfte sind, trägt mich hinüber und hinunter. In die Tiefe. In den Schacht. Und so fährt er mit dem Licht bei der Nacht / ins Bergwerk ein. Mein Körper als Bergwerk. Das Kopflicht des Bergmannes, das voranleuchtet. Das einen matten Schein gibt, mikroskopisch klein, das jede Körperzelle zur Höhle vergrößert, jede Ader zum Flußbett und das Blut zu einem Strom, der pulsierend einem weitverzweigten Stromnetz folgt, an dem entlang das Licht immer tiefer hineinfährt, Organe abtastet, bizarre Gebirgsformationen, sumpfähnliche Felder, Röhrensysteme, die für nichts stehen als für sich selbst. Dieser Genuß des Tatsächlichen, nach so vielen mit Bedeutung überladenen, von Botschaften und Antibotschaften zerfetzten Jahren. Ich lasse mich treiben,doch ist das noch ich, was sich treiben läßt? Das Bewußtseinslicht, das hier innen und unten nur geduldet wird, solange es nicht störend eingreift, es schleust mich weiter, durch Sperren, Netze, Widerstände hindurch, leichte Bewegung, ein Schwimmen und Gleiten im Bereich des kaum noch Körperhaften, schemenhafte, einsehbare Vorgänge, die sich der Beschreibung entziehen, doch mir die erschütternde Einsicht vermitteln, es gibt einen Bereich, oder wie ich das nennen soll, in dem die Unterschiede zwischen Geistigem und Körperlichem schwinden, in dem eines auf das andere wirkt, eines aus dem anderen hervorgeht. Eines das andere ist. Also nur Eins ist. So wäre dies der Ort des Eigentlichen, und es

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