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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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würde sich lohnen, das zu erfahren?
    Unvermittelt sind wir – so wäre ich nicht mehr allein? – am Ort der Auseinandersetzung, auf dem Kampfplatz, im Getümmel. Der Anblick ist ein Schock. Wenn das so ist... Wer soll diesen bösartigen Massen Einhalt gebieten. Ein unübersehbares Gewimmel von zerstörerischen Zellen, die sich auf das gesunde Gewebe stürzen. Aber das geht doch nicht. So geht es doch nicht. Da muß doch etwas getan werden. Ich – jenes Ich, das mir hierher gefolgt ist – entschließt sich einzugreifen und sammelt meine Kräfte. Ich stelle fest, sie sind mir zu Willen und eilen von überallher zur Stelle. Ich habe die Befehlsgewalt. Ich denke, so stark ich denken kann: Vernichtet sie! Meine Kräfte gehorchen.Vor meinen Augen stürzen sich die Antikörper wacker in den Kampf und vernichten ganze Heere der Widerwärtigen, verfolgen sie sogar, wenn sie sich zurückziehen. Gut so. Weiter so. Aber es strengt an. Mehr können wir für heute nicht tun. Ich reiße an der Leine. Aufsteigend nimmt das Bewußtsein wieder Bedeutung an und vergißt die Szenen in der Tiefe.
    Ja, sagt der Nachtarzt, der Wundschmerz, das glaub ich. Sie können gerne noch eine Spritze haben, die steht Ihnen zu. Sie will sie nicht. Sie will sich die Verbindung zwischen den einzelnen Teilen ihres Dreifach-Hirns nicht schon wieder durchtrennen lassen. Die Narkose wirke noch nach. Wie Sie wollen, sagt der Nachtarzt. Auf ihre Bitte zieht er den Vorhang zurück. Mitten im großen Fenster steht am klaren Himmel der Mond. »Ich besaß es doch einmal / Was so köstlich ist.« Wenn sie könnte, würde sie lachen, wie genau ein anderer vor zweihundert Jahren ihr Empfinden ausgedrückt hat. Und? habe ich dich einmal gefragt, was machen wir, wenn das Köstliche vorbei ist, ein für allemal vorbei? Du liebst solche Fragen nicht. Was das heiße: ein für allemal. Woher ich das wissen wolle. Und übrigens könne man ja nicht einfach mittendrin aufhören, bloß weil nicht mehr alles so köstlich ist. – Warum denn nicht, habe ich gedacht, nicht gesagt. Warum denn eigentlich nicht. »Daß man doch zu seiner Qual / Nimmer es vergißt.«Nun kann ich mich, und bin dankbar dafür, an das Wort »Qual« klammern und muß es nicht selbst hervorbringen.
    Wir seien hoffnungslose Romantiker, hielt Urban uns manchmal vor, Renate und mir, wir kämen einfach nicht los von dieser Idealisierung der Autoren. Anstatt uns um Objektivität zu bemühen. Wir verwickelten uns in endlose Diskussionen mit ihm, weißt du das noch, nur du konntest dein gleichmütiges Gesicht dazu machen und die Achseln zucken. Kleist? Der soll ein Vorläufer des Irrationalismus sein? Merkt ihr denn nicht, daß Urban einfach keine Ahnung von Literatur hat? Das ist alles. Aber es war nicht »alles«. Jedenfalls noch lange nicht alles über unseren Freund Urban. Und von Literatur hatte er sehr wohl eine Ahnung. Weißt du noch, was unsere von uns allen verehrte Professorin einmal zu ihm sagte? Manchmal, lieber Urban, könnte man denken, Sie lieben die Literatur. Und weißt du noch, wie verlegen er da wurde?
    Kein Schlaf. Ich muß versuchen, bestimmte Gedanken nachts nicht zu denken. Ehe es hell wird, kommt mir ein merkwürdiger Einfall: Es ist mir gelungen, kurz vor dem Alter, in dem, wie ich mir vorstelle, die Wirklichkeit verblaßt, noch einmal etwas Wirkliches zu erleben. Etwas allerdings, was sehr unwahrscheinlich ist. Was ich nicht glauben darf, was zu glauben hundsgefährlich wäre. So ist es aber, denke ich in der klaren Stunde, die mir morgenszwischen drei und vier fast ohne Fieber gegeben ist, mit der Wirklichkeit überhaupt: Sie ist dann am dichtesten, wenn wir sie ganz und gar nicht glauben können. Es kommt die Stunde Schlaf am frühen Morgen, es kommt der Traum: Meine Mutter auf dem Schoß ihrer Mutter in einen Eisblock eingefroren, mein Vater, über sie gebückt, vergeblich versuchend, sie loszueisen. Ich, ein Kind, auf dem Rücken meines Vaters.
    Als sie erwacht, ist ihr kalt.
    Elvira steht vor ihr, gibt ihr die Hand, mustert, sich drehend, den ganzen Raum, dann scheppert der Eimer. Heute erzählt sie ihr, was für Wurstsorten es in ihrem Heim zum Abendbrot gibt und daß ihr Verlobter Mettwurst liebt, sie aber Leberwurst, so können sie immer ihre Schnitten tauschen, ein Schein von Glück huscht über ihr Gesicht, ein Widerschein davon trifft mich. Die Leberwurstschnitten kommen mir in den Sinn, die ich, fünfzehnjährig, in der Turnhalle der Hermann-Göring-Schule gegen

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