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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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oder warum ist er spätabends noch hier. – Daß bestimmte Grundpfeiler nicht einzustürzen scheinen, erfüllt sie mit einer zurückhaltenden Genugtuung, etwas in der Art möchte sie Kora sagen, als die endlich hereinkommt, sie habe über das Wort »kämpfen« nachdenken müssen, flüstert sie ihr zu. So, sagt Kora. Sie sollten lieber schlafen. – Sie aber auch! – Da muß Kora lächeln. – Wer leben will, der kämpfe also, das kennen Sie hoffentlich nicht. Kora schüttelt den Kopf. – Und wer nicht kämpfen will in dieser Welt des ewigen Ringens,verdient das Leben nicht. Hing in unserer Schule als Spruch an der Wand. – Tja, sagt Kora. Das waren Zeiten.
    Lisbeth, meine Tante Lisbeth, hat mitten in diesen Zeiten einen jüdischen Arzt geliebt und von ihm ein Kind bekommen.
    Um Gottes willen. Haben Sie das gewußt?
    Ich war ein Kind. Sie hat darauf bestanden, daß der Vater ihres Kindes bei der Tauffeier inmitten unserer Familie an ihrer Seite saß. Und dann sollte sich jeder ein Lied wünschen, und der jüdische Arzt und illegitime Vater des Täuflings hat sich »Am Brunnen vor dem Tore« gewünscht, und meine Familie hat es für ihn gesungen.
    Kora schweigt.
    Mir hat es Doktor Leitner selbst erzählt. Er ist extra dafür aus Amerika gekommen.
    Unglaublich, sagt Kora. Da kommen mir die Tränen. Ich fange an zu weinen, das hätte ich längst tun sollen, ich weine und weine und kann nicht mehr aufhören, ich weine um Lisbeth, die sich so sehr veränderte, als der Vater ihres Kindes nach der »Kristallnacht« das Land verlassen hatte, ich weine um ihr Kind, Vetter Manfred, ich weine um Doktor Leitner und um unsere Familie, ich weine um mich. Kora trocknet mir mit Zellstoff die Tränen ab. Alles wird gut, flüstert sie. Ich schüttele den Kopf. Nein. Es kann nichts gut werden. Als mir das klar ist, kann ich aufhören zu weinen. Sieschaffen es, flüstert Kora. Ich nicke. Ja, ich schaffe es. Ich schlafe.
    Du kämpfst doch mit, sagt eine Stimme, die ich nicht gleich erkenne, ich brauche Zeit, ehe ich sie einer früheren Schicht meiner inneren Archäologie zuordnen kann, die allerverschiedensten Einzelstücke sind in meinem Kopf allzu eng aneinandergepreßt. Auf, auf, zum Kampf, zum Kampf / Zum Kampf sind wir geboren. Ja. Es ist Urban, immer wieder Urban, der, seit er es vorgezogen hat, in der Wirklichkeit zu verschwinden, in meinem Kopf Asyl gefunden hat. Wie soll ich sein Verschwinden deuten? Daß er zu kämpfen aufgehört hat? Unglaublich. Der? Nie! hatte Renate gesagt. Der gibt nicht auf. Der rennt sich lieber den Schädel ein. Es war eine nebensächliche Angelegenheit. In dem Betrieb, in dem Urban ein Praktikum als Kultursekretär machte, sollten die Essenräume getrennt werden: in dem einen, besseren, die leitenden Angestellten und Funktionäre, in dem anderen die einfachen Arbeiter. Eine Anordnung von oben, als Maßnahme gegen die Gleichmacherei. Urban protestierte, er stellte sich quer. Wir sahen ihm beklommen zu, wohin sollte das führen. Er ging niemals in den Kantinenraum für die höheren Kader. Er wurde vor die Parteiversammlung zitiert. Er hielt eine glühende Rede. Er sah nichts ein. Wo leben wir denn! schrie er. Er wurde mit einer Rüge bestraft, gegen unsere drei Stimmen. Er kritisierteuns: Wir hätten Disziplin halten sollen. Bei ihm sei das etwas anderes: Für ihn sei das eine grundsätzliche Frage. Er wurde mir ein bißchen unheimlich.
    Ich muß ihn suchen, nichts kann dringlicher sein, als ihn zu suchen. Dazu müßte ich aufstehen, und das versuche ich jetzt, auch wenn sie mich daran hindern wollen. Zu allererst müßte ich meinen linken Arm freibekommen, den sie mir irgendwo festgebunden haben, ich ziehe und zerre, das gibt einen stechenden Schmerz in der linken Ellenbeuge, Blut fließt über das Hemd, das wird die Schwestern nicht freuen. Da kommen sie schon, ausgerechnet Evelyn mit ihren schwarzen Locken, ja um Gottes willen, was machen Sie denn!, und da kommt schon die nächste, Schwester Christine, und in ihrem Gefolge der Chefarzt und Doktor Knabe. Was los ist? Ich sage, daß ich ihn suchen muß. Wen, bitte? fragt der Chefarzt. Ich sage: Urban. Aha, sagt der Chefarzt, und Doktor Knabe überreicht ihm mit undurchdringlicher Miene mein Krankenblatt mit den neuesten Befunden, ich sehe, wie sein kleiner Finger auf einige Stellen tippt: Hier, und hier, und das da kommt auch noch dazu. Ja, ja, sagt der Chefarzt, ich sehe, und ich werde das Gefühl nicht los, er verargt dem Doktor Knabe diese

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