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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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soviel weiß Schwester Evelyn immerhin, und auch nach vierzig Minuten weiß sie nicht mehr, sie fühlt der Patientin den Puls, staunt, daß sie schon wieder klitschnaß ist, aber sie umzuziehen hätte ja jetzt keinen Sinn, frische Hemden sind auch nicht da, doch die Patientin wird auf einmal zornig, sie befiehlt, sofort und auf ihre Verantwortung einen Internisten zu holen, egal, woher. Unentschlossen drückt sich Evelyn an der Tür herum, als die Anweisung noch deutlicher wiederholt wird, geht sie schließlich. Innerhalb von fünf Minuten kommt die junge Internistin von Station VI mit der Spritze. Das hätten wir längst haben können, sagt sie, ein mobiles Elektrokardiogramm wird hereingefahren, die Kontakte werden angeschlossen, die Ärztin hat sofort die Vene gefunden, behutsam die Nadel eingeführt undspritzt sehr langsam, den Bildschirm beobachtend, sieht also, ehe die Patientin es spürt, sofort, als der Puls in seine normale Frequenz umschlägt. So, sagt sie. Aber das müssen wir weiter im Auge behalten.
    Ich bleibe nun also auch noch an einen Apparat angeschlossen, der meine Pulsfrequenz als gelbe Zackenlinie auf einem Monitor abbildet und gleichmäßig piept, immer mehr Drähte führen aus meinem Körper in die Außenwelt. Als du kommst, zeigst du dich wenig begeistert. Hallo, sage ich, was ist denn los. Na was schon, sagst du und hast deinen ganzen Humor verloren, auf Fragen scheinst du nur noch mit Gegenfragen antworten zu wollen, wenn ich frage: Was hat der Chefarzt gesagt, erwiderst du maulfaul: Na was schon. Was soll er sagen. Du beginnst wieder mit den Wadenwickeln. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, sagst du. Ich finde, das ist eine Idee: Es geht womöglich ganz einfach mit dem Teufel zu. Darüber muß ich nachdenken. Doch mit welchem Teufel? Du, sage ich, ob es auch einen Teufel gibt, der stets das Gute will und stets das Böse schafft?
    Diesmal antwortest du gar nicht, wirfst mir nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu, aber ihr irrt euch, nicht alles, was ich sage, kommt aus einer Fieberphantasie. Der Teufel, den ich im Sinn habe, ist der allervernünftigsten Vernunft entstiegen oder ihr in einem unbeobachteten geschichtlichen Augenblick entwichen, der Traum der Vernunft gebiertUngeheuer, habe ich das nicht auch mal Urban entgegengehalten, der war gebildet genug, mich zu korrigieren, der Schlaf der Vernunft habe Goya sein Capriccio benannt; aber wenn ich partout auf Traum bestehen wolle: Es käme doch darauf an, wer träumt. Ja, zugegeben, wenn die kleinen Geister sich des Traums bemächtigten... Was dann, Urban, fragte ich ihn. Was dann? Dann hat die Vernunft nichts zu lachen, sagte er. Er ist mir die Antwort schuldig geblieben, aber ich bin sicher, in unseren beiden Gesichtern war der gleiche Ausdruck von Zweifel und Schrecken. Wir hatten Berichte über den Rajk-Prozeß gelesen. Führte der Weg ins Paradies unvermeidlich durch die Hölle?
    Du erreichst eine leichte Fiebersenkung, heute willst du aber nicht gehen. Nach einer Zeit, die mir lang vorkommt, schicke ich dich weg, du sträubst dich, aber ich könnte doch ruhig hier schlafen, sagst du, ich störe doch nicht, ich sage: Geh, Lieber. Bitte geh.
    Alles wiederholt sich. Ich merke, daß ich die Übersicht verliere. Der Chefarzt findet – da ist es Abend, die bewegliche Lampe über meinem Bett brennt, und er ist in Weiß, hat also nicht eben noch operiert –, es sei doch kein schlechtes Zeichen, wenn das Fieber sich durch die Wadenwickel etwas beeinflussen lasse. Doktor Knabe sagt hinter seinem gepflegten Lippenbackenkinnbart hervor: Obwohl man es jetzt wohl nicht mehr als Operationsfolgeansehen könne. Nicht nur, sagt der Chefarzt knapp. Doktor Knabe geht, er ist wohl leicht zu kränken, der Chefarzt bleibt am Bett stehen, fühlt meinen Puls, macht sich zu schaffen. Was ich eigentlich lese, will er wissen. Ich gebe ihm das kleine blaue Buch. Goethes Gedichte, sagt er. Schwere Kost. Er klappt das Buch beim Lesezeichen auf, murmelt vor sich hin: Versäumt nicht zu üben / Die Kräfte des Guten. / Hier winden sich Kronen / In ewiger Stille / Die sollen mit Fülle / Die Tätigen lohnen. / Wir heißen euch hoffen. – Aha, sagt der Chefarzt. Und nach einer Weile noch mal: Aha. Mit Fülle, sagt er, das ist nicht schlecht gesagt. Nun ja. Bis morgen werden wir abwarten, nicht?
    Irgendwie getröstet geht er hinaus. Sie kämpfen ja mit, sagt er noch von der Tür her, aber eine Antwort wartet er nicht ab. Hat er eigentlich schon wieder Dienst,

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