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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gemächlicher Flucht. Jetzt erst merke ich, das leuchtende Retortenglas mit dem Homunkulus ist verschwunden, nichts weist mir mehr den Weg, die Richtung habe ich längst verloren, ich weiß nur, daß ich den ermordeten Säugling suchen muß, obwohl ich ein unsägliches Grauen vor ihm empfinde. Einmal kommt die Zeit, da man dem Vergessenen nachgehen muß. Ich irre im Grablabyrinth der nicht zur Welt gebrachten Kinder umher, ich muß dem Sinn der Wendung »nicht zur Welt bringen« nachhängen, dabei gehe, stolpere, taste ich mich weiter, nun gibt es keine noch so düstere Glühbirne mehr, nun habe ich eine schwach leuchtende Taschenlampe in der Hand, irgend jemand will unbedingt, daß ich weitergehe und hat für mich an das Wichtigste gedacht. Nun folge ich ehemals weißen, jetzt beinahe ausgelöschten Pfeilen an der Wand, unter denen Buchstaben stehen, die niemand vergessen wird, der sie einmal gekannt hat: LSR . Flüchtig wundere ich mich, daß der Luftschutzraum so weit entfernt von unserem Haus im Kellerlabyrinth gelegen haben soll, denn unser Haus ist ja beinahe unversehrt stehengeblieben, während das Nachbarhaus bei einem derletzten Luftangriffe von einer Luftmine getroffen und total zerstört worden war, und ich muß mich zum erstenmal fragen, ob die Leute aus dem Nachbarhaus damals eigentlich alle getötet wurden, ob einige von ihnen gerettet worden sind – vielleicht, indem sie sich, von der anderen Seite her, noch zu jener Stelle vorarbeiten konnten, vor der ich nun stehe und an der ich die blasse Schrift entziffere: MAUERDURCHBRUCH . Ein Reflex, schreckhaft: Welche Mauer! Aber diese Mauer hier wurde vor langer Zeit durchbrochen, ich kann gebückt, über lockeres Geröll kletternd, die Lücke passieren und finde mich in einem Raum, der dem, aus dem ich komme, aufs Haar ähnelt, nein gleicht, und der nächste wieder gleicht dem vorletzten hinter mir, ich erkenne ihn wieder an den Resten von Holzregalen an der vorher rechten, jetzt linken Wand, mit tief verstaubten und verdreckten Einmachgläsern, auf denen ich mühsam einst säuberlich mit Sütterlinschrift beschriftete Etiketten einer deutschen Hausfrau entziffere: Kirschen 1940, Kaninchenfleisch 1942, ich versuche mir vorzustellen, woher diese Frau 1942, mitten im Krieg, Kaninchenfleisch bekommen hat, vielleicht hatten ihre Eltern einen Schrebergarten, aber was mich wirklich beunruhigt, ist der Verdacht, dann die Gewißheit, daß ich nach dem Passieren des Mauerdurchbruchs in ein Terrain geraten bin, welches sich exakt spiegelbildlich zu dem verhält, in dem ich mich vor dem Mauerdurchbruchbewegt habe. Da sind, in die entgegengesetzte Richtung weisend, die Pfeile an den Wänden, da ist der Unrat in den Ecken, endlich der erste auf die mir unheimlich bekannte Weise wacklige Lichtschalter, die Ratte, die weghuscht. Was heißt denn das, soll ich auf ewig in immer neue Spiegelgänge geführt werden. Ich fühle mich schneller gehen, hastiger atmen, ich will hier raus, da taucht der Homunkulus wieder auf, in seinem Retortenglas, bläuliches Licht absondernd, es ist zuviel.
    Da tritt die Frau heran, jung, reizvoll, lebenssprühend, sie greift sich den Homunkulus, der zum Säugling herangewachsen ist, aus der Luft, nimmt ihn in den Arm, ich erkenne sie, ich rufe: Lisbeth! Doch ich werde nicht gesehen, nicht gehört. Tarnkappe, oft herbeigewünscht. Die Frau flieht, jetzt in Panik, ich ihr nach, will sie beruhigen, retten, da tritt der Mann zu ihr, nicht groß, feingliedrig. Er umfängt sie, streichelt sie, tröstet sie, er nimmt ihr das Kind ab, das also nicht ermordet wurde, das leben durfte, jetzt gehen sie selbdritt vor mir her, wir gelangen in jene schwach beleuchteten Kellerräume, die ich schon kenne, dann kommt der große Keller, der durch Lattenzäune in Abteile für viele Mieter unterteilt ist, durch die Zwischenräume sehe ich altmodische Fahrräder, Kohlenhaufen, sauber geschichtetes Brennholz, Gerümpel, Zeitungsstapel, »Völkischer Beobachter« lese ich, wie im Traum gehe ich weiter, schmerzlos eingetauchtin das Jahr 1936, traumwandelnd in den Kellerräumen des vor vierundvierzig Jahren, 1944, durch Bomben zerstörten Nachbarhauses, der Familie von Tante Lisbeth folgend, die, wie ich wohl weiß, keine Familie ist und bei Strafe ihres Untergangs niemals eine sein darf und werden wird, schlüpfe mit ihnen die Kellertreppe hinauf und schließe unbemerkt mit dem Schlüssel, den die Boutique-Damen mir gegeben haben, für sie die Kellertür auf, hinter

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