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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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könnten Sie sich eigentlich mal einsetzen, sagt sie zum Chefarzt, daß die Krankenwagen besser gefedert werden. Ja, sagt er, das wäre weißgott nötig. Wenn man nicht aufpaßt, sagt sie, sich nicht festklammert, kann man auf dem Katzenkopfpflaster der Dörfer glatt hinuntergeschüttelt werden von der Trage. Ja, sagt der Chefarzt, da haben Sie weißgott recht. Der Chefarzt will nicht mehr Chefarzt genannt werden, die Vorsilbe »Chef« liege ihm nicht, ihr liegt sie auch nicht. Kora sagt, die meisten Patienten, besonders die meisten Patientinnen, sagen sehr gerne »Chefarzt«, ihr Wert steigt, wenn sie sagen können: Mich hat nämlich der Chefarzt operiert. Und mich nennen sie »Frau Doktor«, obwohl sie wissen, ich habe den Titel nicht. Ich brauche die Anrede nicht. Sie brauchen sie.
    Die Patientin fragt Kora, ob der Chefarzt, der Professor, sich wohl bewußt ist, daß er sie beschädigt, ihr ins Fleisch schneidet, zu Heilungszwecken, gewiß, das Bösartige aus ihr herausschneidet, weilsie selber es nicht schafft, sich seiner zu entledigen. Kora will den Ausdruck »das Bösartige« nicht gelten lassen, doch das trägt jeder in sich, im körperlichen wie im übertragenen Sinn, wieso es leugnen. Es allerdings benennen – ja, das ist noch ein anderes Ding, nicht wahr, davor drücken wir uns lieber, und sei es, indem wir uns in den Operationssaal legen. Sehr weit hergeholt findet Kora solche Phantastereien, und auch, daß die Patientin den Professor fragen will, was ihm daran Spaß mache, wenn er ihr ins Fleisch schneide, oder sogar Lust – auch das mißfällt ihr, doch schweigt sie.
    Oder hätte ich den anderen Weg wählen sollen, den, den Urban gewählt hat. Was weiß ich davon? Alles, scheint mir, aber ich will es nicht wissen. Die Frage wird aufgeschoben. Heute habe ich mich zu fragen, was mein Körper mit mir vorhat. Ob er sich gegen mich auflehnt. Ich sehe meinen Körper, ich sehe die Schnitte, die ihn zeichnen. Was für eine Schrift wird meinem Körper da eingeschrieben, und werde ich sie je lesen können. Ist mir das aufgegeben? Aufgegeben, aufgeben, Wörter, deren Doppelsinn zu meiden ist.
    Verlegenheit, eine Art schuldbewußter Verlegenheit kennzeichnet die morgendlichen Verrichtungen. Nicht bei Elvira natürlich, die zu mir durchdringt, sich wie immer mitten im Zimmer um ihre eigene Achse dreht, jeden einzelnen Gegenstand und auch mich wiederum gründlich betrachtet, mitGetöse den Eimer leert und sich wie immer mit einem schlaffen Händedruck von mir verabschiedet, diesmal nicht tschüs! sagt wie sonst, sondern: Also alles Gute dann, nicht? Unangebracht, daß Elviras Anteilnahme mir die Tränen in die Augen treibt.
    Nicht unangebracht ist die sachliche Geschäftigkeit von Schwester Christine, ihr Schwesternlächeln auf ihrem fest verschlossenen Gesicht, hier wird Routine ausgeübt, eingespielte Handgriffe, sie versteht ihr Fach, ich spiele mit. Habe ich zu oft mitgespielt bei ähnlichen Anlässen, will mein Körper mir das andeuten? Kora, die dunkle Frau, drückt sich nicht. Sie erwartet mich im Vorraum des OP , sie verbirgt nicht eine gewisse Unruhe, aber auch sie sagt nicht viel. Nur: Ich könne mich auf das Team verlassen. Das Team verlasse sich auch auf mich. Verlassen, der Wörter Doppelsinn. Ich sage auch nicht viel. Ich sage: Okay. Schwester Nadeschda befolgt genauestens Koras Anweisungen, sie scheint ihr deutsches Sprachvermögen eingebüßt zu haben, nicht aber ihr russisches Lächeln.
    Schneiden. Beschneiden. Einen Schnitt machen. Die Doppelbedeutungen der Wörter scheinen mir jetzt zuzutreiben. Da hast du dich aber geschnitten. Urban hat mich übrigens eine Zeitlang geschnitten, es hätte ihm geschadet, mit mir gesehen zu werden. Wann war das doch. Das war die lange Geschichte mit Paul, wie lange habe ich an die nicht mehr gedacht.
    Paul, der kleine, etwas zu eifrige und unbedingt treue und zuverlässige Paul, den wir alle gern hatten und zugleich nicht ganz ernst nahmen und den Urban, als er den höheren Posten im Ministerium bekam, zu unser aller Verwunderung zu sich holte, an seine Seite, als eine Art persönlichen Referenten oder Mädchen für alles. Ausgerechnet ihm hat er die Ausführung eines Plans anvertraut, den er, Urban, ausgetüftelt hatte und an dessen Ende eine offizielle Verlautbarung stehen sollte, an der einige von uns mitarbeiteten und die eine ganz neue Jugendpolitik eingeleitet hätte. Daß dies nicht gutgehen konnte, hätten wir wissen müssen, und Urban mag es gewußt und

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