Leibhaftig
Befunde, und auch der scheint dieses Gefühl nicht loszuwerden. Der Chefarzt sagt: Mit Ihrer Suche müssen Sie schon noch ein Weilchen warten. Es leuchtet mir ein.Nun will er sich ihre Wunden ansehen, leider hat Schwester Evelyn Dienst, es gibt anscheinend nur noch Plastehandschuhe, die dem Chef nicht passen oder sofort zerreißen, wenn er mit der Hand hineinfährt, die Patientin sagt, um etwas zur Entspannung der Atmosphäre beizutragen: die Handschuh-Arie, aber eine richtige Heiterkeit löst sie damit nicht aus. Gegen die Wunden ist nichts einzuwenden, an denen kann es nicht liegen. Sie habe schon immer eine gute Heilhaut gehabt, behauptet die Patientin und erntet einen schwer zu definierenden Blick des Chefarztes. Während Evelyn ihr ungeschickt die falschen Pflaster aufklebt, sagt er wie zu sich selbst: Ich würde doch ganz gerne wissen, was Ihr Immunsystem derartig geschwächt hat.
Dies ist seit langem der wichtigste Satz, den ich zu hören kriege.
Ich müsse mir vorstellen, redet der Chefarzt weiter, daß die Medikamente, von denen sie jetzt übrigens die richtigen in ausreichender Menge zur Verfügung hätten, zum Großangriff gegen diese verdammten Keime vorgingen; das schon, das ganz bestimmt. Aber alles könnten sie eben auch nicht leisten. Sie seien auf die Unterstützung der körpereigenen Immunabwehr angewiesen.
Ja, sage ich. So stelle ich mir das durchaus vor.
Der Chefarzt sieht mich nachdenklich an und entschließt sich dann weiterzureden. In sachlichem,leicht strafendem Ton sagt er, der Krankheitsverlauf begründe nicht ausreichend den Zusammenbruch meiner Immunabwehr.
Aha. Er hat sich dazu durchgerungen, endlich Tacheles zu reden. Ein Wort wie »Zusammenbruch« kam bis jetzt nicht vor. Jede einzelne Zelle in meinem Körper versteht, was das heißt.
Vielleicht, sage ich und versuche meine Verlegenheit zu überwinden, vielleicht seien nicht nur physische Ursachen – das eine oder andere könne ich mir zur Not erklären – Erschöpfung, seelische Erschöpfung, meine ich –
Der Chefarzt läßt sich auf meine Stammelei nicht ein. Er wird jetzt ganz amtlich, ganz unpersönlich. Eine weitere, wenn auch ganz kurze Sondierung mit dem Computertomographen habe sich als notwendig erwiesen. Sie werde heute noch stattfinden. Ganz kurz, wie gesagt. Er sieht mich nicht an, er spricht zu Doktor Knabe, der schon Bescheid weiß, auch ich blicke taktvoll weg, meine Zustimmung scheint diesmal nicht gefragt zu sein, was jetzt geschieht, geschieht in größter sachlicher Verlegenheit und ohne daß jemand von mir Notiz nimmt, Schwester Christine macht ihr verschlossenes Stationsschwesterngesicht, sie wechselt die Tropfbehälter aus, sie legt den Katheter neu an, alles flink, geschickt, sie sagt, heute werde es wieder diverse Gewitter geben, sie scheucht Elvira, die endlich den Eimer auswechseln will, mit einer einzigen Bewegunghinaus, auch der junge Pfleger Jürgen, der den Fußboden mit einer Desinfektionsbrühe aufwischt, scheint vor Verlegenheit eine Spur zu munter, dieses Jahr, beklagt er sich, habe er erst ganz selten vorm Bootshaus seines Vaters sitzen können. Und sogar Schwester Thea, die pünktlich den Nachmittagsdienst antritt, die wie immer mit einem Blick sieht, was zu geschehen hat, den Vorhang zuzieht, weil die Sonne jetzt voll auf dem Fenster liegt, mir die Rolle unter die Knie schiebt, das Nachthemd wechselt, sogar Schwester Thea läßt sich auf keine Erörterung ein.
Ich habe zu tun mit dem Wort »Zusammenbruch«. Ich sehe Höllenbilder, wegen welcher Schuld? Ich schmähe die Religion, die uns für jedes Unglück eine Schuld als Ursache einredet, aber wieso denn Unglück, bin ich im Unglück? Kora sagt, direkt Glück würde sie es auch nicht nennen, aber wie auch immer, es wäre ihr lieber, wenn ich nun nicht weitersprechen, womöglich auch nicht so viel denken würde, vielleicht einfach schlafen könnte, das sehe ich ein, doch leider spüre ich, während sie noch an meinem Bett steht, wie das Schüttern in mir leise anfängt, nicht schon wieder, ich will es nicht, ich stemme mich dagegen, spanne die Muskeln an, beiße die Zähne zusammen, es ist stärker als ich, es bricht meinen Widerstand, macht sich los, packt mich, schüttelt mich, schüttelt das Bett, macht meine Zähne klappern. Strafaktion, denkeich. Heulen und Zähneklappern. Ach so ist das gemeint. Kora hat schon auf die Klingel gedrückt, Schwester Thea wirft schon die zweite Decke über mich, stemmt sich gegen meine schütternden
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