Leibhaftig
der, kaum kann es mich noch erstaunen, die kleine Plastetüte mit meinem Badeöl steht. Ich folge Lisbeth, die sich beruhigt hat und ihr Kind zärtlich trägt, hinauf in den ersten Stock, zu der Tür, an welcher der Name ihres Mannes steht, der auch ihr Name und der ihres Söhnchens ist, vor der sie also innehält, ihren Schlüssel aus der Schürzentasche holt und ihr Begleiter, der Vater ihres Kindes, der sich hier von ihr trennen muß, sie umarmt, nicht ohne daß er sich vorher aufmerksam, wachsam im Treppenhaus umgesehen hat. Mir ist heiß geworden bei dem Gedanken, er könnte mich, das siebenjährige Kind, sehen, heiß bei der Frage, was dieses Kind mit dem Wissen angefangen hätte, daß seine Tante ein uneheliches Kind von einem Juden hat. Er sieht mich nicht, so folge ich denn, unsichtbar, schweren bedrängten Herzens dem Mann, der, langsam, gebeugt, zwei weitere Stockwerke hinaufsteigt in dem Haus, das es schon lange nicht mehr gibt, bis zu jener Tür, an der ein unscheinbaresPappschild, von Hand beschriftet, befestigt ist: Dr. med. Leitner, praktischer Arzt, tgl. 17-19 Uhr (für arische Patienten verboten). Doktor Leitner verzieht leicht die Mundwinkel, er weiß, und ich weiß es inzwischen auch, daß auch die jüdischen Patienten spärlich kommen, immer spärlicher, es gibt sie kaum noch in dieser Stadt, und daß er nicht überleben würde ohne die Suppen, die Tante Lisbeth ihm täglich bringt, die sie furchtlos über zwei Treppen nach oben trägt, egal, wem sie unterwegs begegnen mag. Daß er verloren wäre ohne das Stück Brot von ihr, ohne den selbstgebackenen Kuchen von Lisbeth, die ihn liebt.
Als ich erwache, muß die Nacht bald vorbei sein. Kora ist wieder da. Ich sage ihr, daß ich den ermordeten Säugling nicht gefunden habe, daß er vielleicht doch nicht in unserem Keller liegt, sie antwortet nicht, sie liest mit Schwester Christine zusammen die Temperatur auf dem Thermometer ab. Elvira, die wie immer beharrlich hereinkommen will, wird hinausgescheucht: Heute nicht! Gewaschen muß werden, daß sie erschöpft ist, ist ja klar, heute machen wir es zu zweit, gut, daß Sie schon wieder Frühdienst haben, Schwester Thea. Gestern hatte ich Spätdienst, sagt Schwester Thea, wenn der Dienst springt, hat man wenig Zeit zum Schlafen. Das Fieber ist zu hoch für den frühen Morgen, jetzt schon mit Wadenwickeln anzufangen hat wohl keinen Sinn. – Was glauben Sie, Schwester Thea,warum ein zwölfjähriger Junge seinen Bruder, einen Säugling, ermordet. – Neid und Eifersucht regieren die Welt, sagt Schwester Thea, vor niemandem müsse man soviel Angst haben wie vor den Benachteiligten, und wenn die noch dazu keinen Glauben haben, dann gnade uns Gott. Schwester Thea hat einen Glauben, sie singt im Kirchenchor mit, sie ist, finde ich, sehr jung für so einen festen Glauben, aber sie würde wohl die Menschen, die ihr ausgeliefert sind, nicht nach ihrem Glauben fragen oder einteilen. Was wird mit mir, Schwester Thea, hört sie sich fragen, und Schwester Thea sagt, sie sei sicher, sie werde gesund. Den Chefarzt fragt sie nicht danach, er kommt, um ihr mitzuteilen, die Analyse der Erreger, die ihr Fieber verursachten, sei eingetroffen, man werde die jetzt mit den speziell auf sie abgestimmten Mitteln bekämpfen. Wir werden sie mit unserem schwersten Geschütz beschießen, sagt der Chefarzt. Doktor Knabe steht mit der Spritze schon hinter ihm.
Zum erstenmal verspürt der Chefarzt das Bedürfnis, ihr zu danken für ihre »gute Mitarbeit«. Das helfe ihnen sehr. Ja wo sind wir hier denn, in einem Betrieb, oder was? Und was könnte sie denn sonst tun, fragt sie später Schwester Christine, die findet, sie könnte sich auch ganz anders anstellen. Sie denkt darüber nach, aber sie wüßte nicht, wie. Es scheint unbemerkte Augenblicke zu geben, da artet die Daueranstrengung in Überanstrengung aus,etwas in ihr scheint sich manchmal stärker anzustrengen, als es nötig wäre, jedenfalls beginnt ihr Herz plötzlich wieder zu rasen. Sie will es zuerst nicht glauben, dann muß sie doch klingeln, leider hat Evelyn Dienst, es ist also schon wieder Nachmittag, die kann keinen Arzt rufen, weil alle immer noch operieren, sie kann sich nur wundern über das Rasen ihres Herzens, sie wird sich weiter bemühen, aber nach zwanzig Minuten operieren die Ärzte der Station immer noch, und einen Arzt von einer anderen Station darf sie ohne Genehmigung des Stationsarztes nicht holen, der aber wurde zu einem Notfall gerufen, in den OP 111,
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