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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Schultern, wie banal diese Wiederholungen sind, wie trostlos, die Sauerstoffflasche steht ja noch im Zimmer, Kora stülpt mir die Maske über Mund und Nase: Atmen, atmen. Tief atmen!
    This is the point of no return. Große Flammenschrift an dunkler Wand.
    Nein. Das nicht auch noch. Nicht auch noch das schrille Klirren der Waffen. Hätte ich doch die Stille vorher dankbarer wahrgenommen. Das nächste Mal werde ich dankbar sein für die Stille und Bilderleere in meinem Kopf. Jetzt muß ich den Höllenlärm aushalten und die Züge der Gefolterten ansehen, die sich durch die Geschichte schleppen und die mich aus meinem Innern heraus anblicken. Nicht anklagend. Leidend. Ich stehe den Leidenden gegenüber. Das schaffe ich nur in Zeiten, in denen ich selbst leide. Der geheime Sinn des Leidens geht mir auf, ich weiß, daß ich ihn wieder vergessen werde.
    Warum ist Ihr Immunsystem zusammengebrochen. Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete. Weil es, schlau, wie diese geheimen Kräfte in uns nun mal sind, die Person niedergeworfen, krank gemacht hat, um sie auf diese etwas umständliche und langwierige Weise demSog zum Tode hin zu entziehen und die Verantwortung einem anderen zuzuschieben, nämlich Ihnen, Herr Professor. War das der Grund für Ihre Verlegenheit vorhin, für Ihren kaum verhohlenen Unmut? Daß Sie die Rolle ablehnen, die Ihnen da zuzufallen droht? Daß Ihnen etwas von den ihr selbst verborgenen Absichten dieser Person schwant, die man allerdings Absichten nicht nennen kann. Wie sie auch lieber nicht von Zusammenbruch reden oder denken will, sondern von Auflösung, dem heftigen Wunsch zu verschwinden, den fürs erste stellvertretend jenes geheimnisvolle Immunsystem erfüllt, das ja, wie so vieles, an das wir glauben, auch nur eine Vorstellung ist, eine Abstraktion, in ein Wort gebannt, damit wir Ruhe geben, unbekümmert weiterleben, ohne auf die Spuren zu achten, die unsere Skrupellosigkeit und Unwissenheit in unseren Leibern hinterläßt. In unserem Immunsystem zum Beispiel, das sich eines Tages gezwungen sehen kann, sich von uns zurückzuziehen. Das seine Aufpasser- und Wächterrolle, seine Verfolgerrolle satt haben kann. Es einfach satt haben kann, hinter jedem mehr oder weniger bösartigen Erreger herzusein und dafür von ihr auch noch beschimpft zu werden mit dem Ausdruck »Killerzellen«. Die Manipulationen dieser durchtriebenen Person durchschaut und sich einfach schlafen gelegt hat, als die Entzündung mikroskopisch klein anfing und, hätte man sie nur beachtet, leicht beherrschbar gewesenwäre. Und das einfach keinen Grund sehen konnte, sich klüger, lebenswilliger, wachsamer, vernünftiger zu verhalten als die Person selbst. »Selbst«, welch ein schwankender unscharfer Begriff.
    Ihr Körper hat ihr rechtzeitig Bescheid gegeben, aber sie wollte ja beim ersten Anfall rasender Schmerzen an nichts Böses glauben, keinen Arzt rufen, die Reise nicht unterbrechen, sondern bot ihrem »überanstrengten« Magen Kamillentee an, aber wie ist es zu erklären, daß sie auch Wochen später, bei rasenderen Schmerzen, rasenderer Übelkeit, als nicht mehr daran zu denken war, auch nur einen Schluck Tee hinunterzubringen, immer noch keinen Arzt wollte, immer noch auf Magenschleimhautentzündung bestand und der Ärztin nicht glaubte, die schon von der Tür her die Diagnose aussprach und nach dem Krankenwagen telefonierte.
    Daß sie sich umbringen wollte – dies war nämlich die Frage, die die Ärztin ihr stellte: Wollen Sie sich mit Gewalt umbringen? –, wäre zu primitiv gedacht. Eher schon sollte man sich daran erinnern, daß sie sich als Kind ihre Seele wie einen Blinddarm vorgestellt hatte, ein bleiches gekrümmtes Stückchen Hautschlauch, das sich allerdings im Brustraum aufhielt, in der Nähe des Magens, wo auch die Angst sitzt. Es war ihr wohl nicht in den Sinn gekommen, der Blinddarm, der so aussah wie ihre Seele, könnte ihr wegoperiert werden. Seelenlos würde sie sich doch vorkommen, aber wem solltesie das sagen. Die Ärztin, die eine ihr sonst fremde Eile und Strenge an den Tag legte, ließ sich auf keine Diskussion ein, wollte nur wissen, warum sie jetzt erst gerufen worden sei, schüttelte den Kopf über die Behauptung der Patientin, diese Schmerzen hätte sie nicht als Blinddarmschmerzen erkennen können, aber merkwürdigerweise wanderten die Schmerzen in dem rüttelnden Krankenwagen prompt zur rechten Bauchseite hin.
    Dafür

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