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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Paul von Anfang an als Joker benutzt haben. Als der also bestraft wurde und »im Orkus« verschwand, wie aus Urbans Umgebung zu vernehmen war, hat auch Urban gewackelt, und wem hätte es genützt, wenn auch er noch gestürzt worden wäre? Jedenfalls mußte er sich eine Zeitlang von Leuten fernhalten, die nicht ganz astrein waren. Renate rief manchmal an und warb um Verständnis für ihn. Die Unbefangenheit zwischen uns war für immer dahin. Paul aber, der krank wurde und für Monate in einem Sanatorium verschwand, Paul, der zuverlässig und sich selber treu geblieben war, kam nicht mehr auf die Beine. Er verrichtet untergeordnete Arbeit in einem Archiv.
    Der Professor kommt wie sonst, feige ist er nicht, nur wortkarg. Und auf diese verdammt grassierendeWeise verlegen. Er gibt mir wie sonst höflich die Hand. Ja, die Spritze habe ich bekommen, das leise, angenehme Summen in meinem Kopf fängt an. Können wir? Ich sage: Wir können. Gut, sagt er. Er verschwindet, Grün in Grün, hinter der Tür des OP . Als ich, Minuten später, folge – eigentlich gefolgt werde, aber so kann man nicht sprechen –, stehen da wieder, schweigend und reglos, die drei Männer in Grün, haben ihre Hände zur Kapitulation erhoben und sehen alle gespannt auf mich. Wer greift hier wen an? Wer ergibt sich wem? Ich hab mich ergeben / Mit Herz und mit Hand / Dir Land voll Lieb und Leben / Mein einig Vaterland. Schwarz eingerahmter Spruch über dem Sofa der Großeltern.
    Wie immer sind die braunen Augen von Kora über dem Mundschutz das letzte, was ich sehe. Maske. Dann das Gängesystem, Gangliensystem? Bekannt, nicht vertraut. Könnte niemals vertraut werden, aber bekannter von Mal zu Mal. Hinunter, in die Tiefe, an dem blaßgrünen Metallkästchen vorbei. BIG BROTHER . Damit muß man leben, sagte Urban einmal zu mir. Überall auf der Welt müssen wir damit leben. Irgendwann hatte er angefangen, auf diese neue, beinahe verschwörerische Weise »wir« zu sagen. Wir, sagte er geheimnisvoll, von den eigenen Leuten beargwöhnt im eigenen Land, einer größeren Bruderschaft zugehörig, die ihn tröstete und rechtfertigte und von der eine starke Verführungausging. Auch auf mich? Ja. Auch auf mich. Eine Zeitlang wohnte sie in ihrer realen Stadt mit diesem Metallkästchen im Keller, in dem ihre Telefonleitung konspirativ verschwand, und zugleich in einer anderen Hoffnungs- und Menschheitsstadt, die ihre eigentliche Heimat war oder sein würde, die wir der Zukunft schon noch entreißen, die wir uns schaffen würden, »wir«, die auch Urban meinte. Seit wann fühlte sie sich nicht mehr angesprochen, wenn er »wir« sagte, es gab, glaube ich, keinen besonderen einzelnen Anlaß, nur eine Häufung alltäglicher und weniger alltäglicher Anlässe, die jenen Dauerschmerz erzeugte, der zu Einsichten führen mußte, die Urban scheute. Und es war nicht einer der geringsten Schmerzen, als sie begriff, daß er sich mit Renate in irgendeiner Drei-Zimmer-Wohnung in der Karl-Marx-Allee und in einem Büro in irgendeinem Ministerium eingerichtet hatte, auf Dauer. Aus denen er nun, ebenfalls für immer, daran hatte sie nicht eine Sekunde lang gezweifelt, entwichen war, geflohen. Und sich mit dieser Flucht wieder in den Bereich ihres Verständnisses gerettet hatte. Unheilbare Zustände.
    Bloßlegen, bloßgestellt werden, Bloßlegung der Eingeweide, aus denen die modernen Auguren nichts herauslesen können, weder Heil noch Unheil. Mein Abscheu gegen Bloßstellung anderer, gegen Selbstentblößung. Die Intimität der Situation, die durch ein ausgeklügeltes Ritual versachlicht wird. DieSchnitte. In einem vorgeschriebenen Muster angebracht, alles andere wäre ein Kunstfehler. Wer nicht hören will, muß fühlen, Worte der Großmutter. Wer nicht fühlen kann, muß stärker verletzt werden. Und wer sich nicht tief genug ins eigene Fleisch schneidet, zu schneiden wagt, schafft den Vorwand, daß es ein anderer für ihn tun muß, Herr Professor. Trickreiche Einrichtungen und Vorkehrungen. Wie oft die »Seele«, das »Bewußtsein«, was immer das sein mag, der Manipulation ausgeliefert, wehrlos dalag. Nun wird am Körper manipuliert, dem Wort endlich zu seinem Recht verholfen. Mit der Hand gearbeitet. Mit der geschickten, trainierten, geschulten, viertelstundenlang gewaschenen und mit einem Plastehandschuh geschützten Hand. Die versucht, der Wahrheit des Körpers auf den Grund zu gehen, die der so lange verborgen hat. Die in den Eingeweiden wühlt. Nach einer wohlüberlegten

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