Leibhaftig
Strategie vorgeht, einem listigen Umweg nämlich, um, ohne andere Organe zu verletzen, bis zur Wurzel des Übels vorzudringen, zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt. Identisch ist, ob Sie das nun zugeben wollen oder nicht, Professor. Während Schwester Nadeschda die Wundränder auseinanderhalten, mit dem Tupfer in Aktion treten muß. Während Kora die Apparate überwacht, mir hin und wieder über die Stirn streicht. Ein Gemetzel.
Ich glaube, diesmal haben wir alles erfaßt. – Wo bin ich. Die klassische Frage der Erwachenden, die man nur banal oder gar nicht beantworten kann. Schwester Thea nennt mir einfach meine Zimmernummer, wie im Hotel. Der Professor, ganz in Grün, muß gehen, kündigt aber an, bald wiederzukommen. Ich bin sicher, diesmal haben wir alles erfaßt.
Du kommst herein. Wie spät ist es denn. Ach, schon Nachmittag. Das Aufwachen, sage ich dir mit gelähmter Zunge, ist immer wunderbar. Alles ist vorbei, und du hast nichts gemerkt. Wär ja auch noch schöner, sagst du. Doktor Knabe kommt und fragt Schwester Thea nach meiner Temperatur. Na also, sagt er. Wäre ja auch noch schöner. Diesmal, sagt er, haben wir alles erfaßt. Da ist nichts mehr. Da kann nichts mehr sein. Er gibt dem Oberarzt die Klinke in die Hand, der gekommen ist, mir mitzuteilen, daß diesmal nichts zurückgeblieben sein kann. Nach menschlichem Ermessen, sagt er. Ich frage dich: Warum lachst du nicht? Du sagst: Später. Ich sage: Gut. Aber irgendwann müssen wir mal wieder lachen.
Übrigens, sage ich, ich glaube, das Labyrinth in meinem Gehirn entspricht dem Labyrinth unseres Kellersystems. Du blickst erschrocken. Nein, sage ich. Ich phantasiere nicht. Ich bin nur immer in diesen unterirdischen Gängen unterwegs, weißt du. Du sagst: Muß das sein? Ich sage, ja, ich glaube,das muß sein. Übrigens, sag mal, haben sie Urban gefunden? Du kriegst dein verschlossenes Gesicht und schüttelst den Kopf. Ich sehe, du willst es mir nicht sagen, und ich will es nicht wissen. Ich sage, einmal hat er zu mir gesagt, die Wahrheit ist relativ, erinnerst du dich. Du schüttelst den Kopf. Die Wahrheit, hatte Urban gesagt, es ist Jahre her, sei eine Funktion des Fortschritts in der Geschichte. Alles andere sei Gefühlskitsch. – Ob er denn meine, der Zweck heilige die Mittel? Er zögerte. Bis zu einem gewissen Grad, sagte er dann. Bis zu welchem, hatte sie gefragt, und er, immer flüsternd, da sie zwischen anderen Leuten in der S-Bahn standen: Das sei von Fall zu Fall zu entscheiden. Sie: Und wer entscheide das? Und Urban: Immer der, der den besten Überblick habe. Jedenfalls nach Interessenlage und nicht nach den Kriterien ihres moralischen Rigorismus. Der würde uns entwaffnen, ob sie das nicht sähe. Dann könnten wir gleich die weiße Fahne raushängen. Oder? – Sie sagte, flüsternd: Ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht. – Und er: Denk drüber nach.
Irgendwann bist du weggegangen, Schwester Thea scheint nicht viel zu tun zu haben, alle nasenlang kommt sie ins Zimmer, kontrolliert die Tropfs, stellt ihr das Kopfende des Bettes bequemer ein, wischt ihr das Gesicht mit einem kalten Lappen ab, tupft ihr Lippen und Mundhöhle aus. Morgen, sagt sie, sieht das alles schon wieder ganz andersaus. Aber das wissen Sie ja, Sie sind ja ein Profi. Als der Professor kommt, ganz in Weiß, hat sie gerade ihre Temperatur gemessen, sie hält ihm das Thermometer hin. Na also, sagt er, das sieht doch schon ein bißchen freundlicher aus. Natürlich spritzen wir das Mittel weiter, Schwester Thea, alle fünf Stunden, seien Sie so freundlich. Das wäre ja noch schöner, wenn wir mit diesen Burschen nicht fertig würden. Auch Schwester Thea ist überzeugt, daß wir mit diesen Burschen jetzt fertig werden. Ich spüre es kaum, wenn sie mich spritzt. Nachtdienst hat sie leider nicht, aber gleich morgen früh wird sie wieder dasein.
Nachtdienst hat erfreulicherweise Kora, Kora Bachmann, sie kommt, als es dunkel ist. Diesmal, sagt sie, sind die Herren der Sache aber wirklich auf den Grund gegangen. Da ist nichts mehr, dafür leg ich meine Hand ins Feuer. Ich sehe mir Koras Hand an, sie ist schmal und sehr fraulich, zum erstenmal kommt mir der Gedanke, sie könnte Kinder haben. Ich frage sie, sie nickt. Ein Mädchen, vier Jahre, Luise. Und wer ist bei ihr, wenn sie arbeitet? Meine Mutter, wenn Luise nicht im Kindergarten ist. Und der Vater? Geschieden, sagt Kora. Ich sage: Schade. Kora schweigt. Nach
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