Leibhaftig
einiger Zeit sagt sie, manchmal denke sie, Frauen und Männer paßten in unseren Breiten immer weniger zusammen. Dann schweigen wir beide, Kora muß gehen. Sie wird wiederkommen. Schlafen Sie, sagt sie.
Mit Schlafen habe ich schon genug Zeit versäumt, überhaupt versäume ich hier drinnen eine Menge Zeit. Viel später verstehe ich, daß dies meine erste Empfindung aus dem Kosmos der Gesunden ist. Wenn Gesundwerden bedeutet, Kranksein nicht mehr für den einzig möglichen Zustand zu halten. Ich wehre mich. So weit bin ich nicht. Auf der gut bekannten Traumschiene gleite ich beinahe erleichtert wieder in das Zwischenreich, in dem ich mich ganz wohl fühle, warum, kann ich nicht fragen, doch etwas in mir weiß die Antwort: weil alle Gedanken aussetzen, alle Unterscheidungen aufhören, gut und schlecht, wahr und unwahr, richtig und falsch nicht mehr gelten. Eine Erholung des überanstrengten Gewissens. Die Farbe ist grau. Die dunkle Frau hat mich bei der Hand gefaßt, es ist nicht auszumachen, wer wen führt, sie lächelt und sagt etwas wie: Zum letztenmal, ich fühle schon ein Bedauern, obwohl dieses letzte Mal noch vor mir liegt. Das Fenster unseres Berliner Zimmers wieder, aus dem wir hinausschweben, das muß so sein. Der Hof unter uns, eingesperrt in das Mauerviereck der Häuser. Das Himmelsquadrat über uns, das in dieser Stadtmitte niemals ganz dunkel wird. Die scharf ausgeschnittenen Lichtzeichen weniger Fenster. Die grelle Musik aus dem oberen Stockwerk. Alles wie immer, und alles neu. Wir lassen uns herab, schweben durch den Torweg hinaus, dessen Flügel merkwürdigerweise weit offenstehen.
Die Friedrichstraße ist aufgerissen. Tiefe Gräben laufen an den Rändern der Bürgersteige entlang, begrenzt von hohen Stein- und Sandhaufen. Wir folgen, immer schwebend, dem Lauf der Gräben und blicken in das Gewirr von Kabeln und Röhren unter uns. Bloßlegen der Eingeweide. Ja, sagt Kora, so könnte man es nennen. Wir gleiten an späten Besuchern vorbei, die leicht angetrunken aus der »Kleinen Revue« kommen, und hocken uns Ecke Hannoversche und Chausseestraße auf einen der Sandhaufen, den die Maschinen aufgeworfen haben. Ein geisterhaftes Licht scheint aus der Unterwelt herauf. An den steil abfallenden Grabenrändern können wir die Schichten ablesen, in denen die Jahrzehnte ihren Schutt abgelagert haben. Archäologie der Zerstörungen. Kora, die immer noch meine Hand hält, gibt mir ein Zeichen, wir lassen uns in den Graben hinab, auf die unterste Schicht, welche die Bagger freigelegt haben. In den Hades, sage ich zu Kora. Der Gott der Unterwelt, der die schöne Persephone auf seinem goldenen Wagen entführte. Aber die Trauer und die Arbeitsverweigerung ihrer untröstlichen Mutter Demeter bewirkten, daß sie, die Tochter, zwei Drittel des Jahres bei ihr sein durfte, in der lichten Oberwelt, deren Fruchtbarkeit von ihr abhing.
Griechische Mythologie hat Kora in der Schule nicht gelernt. Wir stehen auf zersprungenen, zerschlagenen Fliesen, eine Wandkachel zeigt grüneRanken, eine andere eine Kette von Würsten. Eine Fleischerei alten Stils, aus dem vorigen Jahrhundert, vermuten wir, verschüttet. Durch leichtes Schaben legen wir eine höhere Schicht frei, Mauersteine, in die kyrillische Buchstaben eingeritzt sind, ich entziffere einen Namen, Pawel war hier, sage ich zu Kora. Russisch kann sie auch lesen. Wladimir kam aus Nowgorod, sagt sie. Der wäre vielleicht lieber dort geblieben. Botschaften einer versunkenen Epoche. So schnell geht es, flüstere ich Kora zu. Und immer decken die Späteren die Zeugnisse der Vergangenen eilfertig mit ihren Pflastersteinen und ihrem Beton zu, über den dann die neuen Soldaten marschieren. Und wenn wir ein wenig graben würden, uns in die Wände hineinarbeiten, wir würden auf Knochen stoßen. Die Einschußlöcher in den ober- und unterirdischen Häuserwänden zeugen von lebhaftem Schußwechsel, selbstverständlich muß auch Menschenfleisch in die Schußlinie geraten sein.
Wir graben nicht. Wir bewegen uns weiter in dem Grabensystem, folgen Wasser- und Abwasserrohren, in denen es gurgelt oder die, verrostet, in einer Sackgasse enden, stoßen auf Kabelschächte, in denen die Leitungen längst verrottet sind und neben die man nun, das ist der Sinn dieser Grabungen, neue Leitungen in neuen Kabelschächten verlegt, durch die Strom fließt, durch die Telefongespräche, belauscht und unbelauscht, hin- undhergehen, und einmal, nach einem weiteren halben Jahrhundert, dessen Zeugin ich
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