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Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)

Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)

Titel: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas de Padova
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immerzu einen Spagat ab: zu entscheiden, wie viel dieser Komplexität wir in unsere Betrachtungen einbeziehen können und möchten. Einerseits können wir so rechnen und so handeln, als gäbe es eine externe »absolute« Zeit, eine Zeit der Uhren. Das erleichtert uns die zeitliche Koordination von Prozessen. Das organisierte Miteinander in einer Millionenstadt würde unvermeidlich im Chaos enden, wenn alle Uhren plötzlich verschwunden wären.
    In unserem vorstrukturierten Alltag erleben wir jedoch ständig die Spannung zwischen einer solchen externen Uhrzeit und einer Ereigniszeit. Wenn wir im Wartezimmer in der Arztpraxis sitzen, wenn eine berufliche Besprechung auch nach einer Stunde noch nicht zu einem Ergebnis gekommen ist oder wenn die Kinder nicht einschlafen wollen, spüren wir womöglich den Termindruck, der von der Uhr als sozialem Zeitmaßstab ausgeht. Dennoch folgen wir in solchen Fällen nicht dieser äußeren Zeit, sondern wechseln unseren Bezugsrahmen, um den konkreten Umständen gerecht werden. Im Hier und Jetzt bilden die Ereignisse, in die wir selbst einbezogen sind, die für uns relevante zeitliche Ordnung. »Ich rufe zurück, wenn die Kinder im Bett sind«, lautet eine typisch relationale zeitliche Aussage, die wir in solchen Situationen von uns geben.
    Wir sind nicht mit allen Menschen im Hier und Jetzt verbunden. Daher ist die Uhr ein so wichtiger sozialer Bezugsrahmen. Ihr Minutenzeiger, der im 17. Jahrhundert erstmals auftauchte und seither präzise fortschreitet, gestattet es uns, alle Termine innerhalb dieser linearen Zeit nahtlos unterzubringen.
    Aber die Uhr reduziert Zeit auf einen messbaren Parameter. Sie blendet all jene Dimensionen der Gegenwart aus, die für uns Menschen so bedeutungsvoll sind. In der Gegenwart, dem Jetzt, sind wir selbst mit den Ereignissen verbunden und gestalten sie mit, sind anwesend mit unseren Gedanken und Empfindungen und setzen Prioritäten. Die Gegenwart wartet ständig mit Anknüpfungspunkten für neue Erfahrungen auf.
    »Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhige ihn ernsthaft«, erzählt der Philosoph Rudolf Carnap in seiner Autobiografie. »Er erklärte dazu, dass das Erlebnis des Jetzt etwas Besonderes für den Menschen bedeute, etwas wesentlich anderes als Vergangenheit und Zukunft; doch dieser so wichtige Unterschied zeige sich nicht in der Physik und könne dort auch nicht auftauchen. Dass dieses Erlebnis von der Wissenschaft nicht erfasst werden kann, bedeutete ihm einen schmerzlichen, aber unausweichlichen Verzicht.« 179
    Für eine Erklärung des Jetzt lassen die Physik und ihr instrumenteller Zugriff auf die Welt wenig Spielraum. Nicht dass Einstein prinzipielle Grenzen zwischen der Physik, der Biologie und den anderen Wissenschaften zog. Er hielt es durchaus für denkbar, die Welt auf naturwissenschaftliche Weise abzubilden. »Aber es hätte doch keinen Sinn. Es wäre eine Abbildung mit inadäquaten Mitteln, so, als ob man eine Beethoven-Symphonie als Luftdruckkurve darstellte.« 180
Jetzt aber!
    Leibniz glaubte an einen Gott höchster Rationalität und hatte doch die Komplexität der Welt zum zentralen Gegenstand seiner Reflexionen gemacht. Der Erfinder von Rechenmaschinen sah überall auch das Nichtgeometrische in der Natur und verfolgte die Vielfalt individueller Erscheinungsformen bis in den Mikrokosmos hinein. Auch er war zu dem Schluss gekommen, dass das Erleben der Gegenwart mechanisch nicht erklärt werden kann. In dem bereits an anderer Stelle erwähnten Mühlenbeispiel umriss der Philosoph die Grenzen naturwissenschaftlicher Erklärungen: »Und denkt man sich aus, dass es eine Maschine gäbe, deren Bauart es bewirke, zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zu haben, so wird man sie sich unter Beibehaltung der gleichen Maßstabsverhältnisse derart vergrößert vorstellen können, dass man in sie wie in eine Mühle einzutreten vermöchte.« Dennoch würde man in ihr, sobald man sie beträte, nur Teile vorfinden, die aneinanderstießen, aber nichts, was ihr Vermögen wahrzunehmen erklären könnte. 181
    Man kann die barocke Mechanik der Mühle um moderne biochemische Prozesse erweitern und Hirnforscher im vergrößerten Innenraum dieser Mühle umherwandern lassen. Bisher suchen auch sie darin vergeblich nach dem Bewusstsein, das sich nicht mit seinen materiellen Trägerstrukturen identifizieren lässt. Die funktionale Architektur der Mühle gibt ihnen keine Auskunft über das Erleben der Gegenwart.
    Zwar sah Leibniz keine

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