Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)
Möglichkeit, die Schwelle zum Bewusstsein mithilfe mechanischer Erklärungen zu überschreiten. Dennoch glaubte er, dass unser gegenwärtiges Erleben durch jeweils vorangehende Bewusstseinszustände unausweichlich festgelegt ist, dass es also eine grundlegende Kontinuität des Bewusstseins gibt. In seinen Augen war das Jetzt kein punktförmiger Augenblick.
In jedem Augenblick gäbe es in unserem Innern eine unendliche Menge von Perzeptionen, auf die wir aber nicht achteten, weil sie entweder zu schwach und zu zahlreich wären oder zu gleichförmig. Sie blieben unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Auf solchen kleinen Perzeptionen beruhten letztlich unsere unbestimmten Eindrücke, unser Geschmack sowie jene Eindrücke, die die uns umgebenden Körper auf uns machten. »Ja, man kann sagen, dass vermöge dieser kleinen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit erfüllt ist … Diese unmerklichen Perzeptionen sind es auch, die dasjenige bezeichnen und ausmachen, was wir ein und dasselbe Individuum nennen: denn kraft ihrer erhalten sich im Individuum Spuren seiner früheren Zustände, durch die die Verknüpfung mit seinem gegenwärtigen Zustand hergestellt wird.« 182
Während sich unser Leben in einem zeitlichen Nacheinander entfaltet, ist jede noch so kleine Bewusstseinsspanne Teil eines gerichteten Bewusstseinsstroms, der unser primäres Zeiterleben ausmacht. Wir erleben Zeit als fließend. Erinnerungen erfüllen die Gegenwart und machen sie lesbar, Erinnerungen und Erwartungen spannen jede bewusst erlebte Veränderung in eine zusammenhängende Geschichte ein. Mag die Materie auch ins Unendliche geteilt sein, so erschaffen wir mit der von uns erlebten Zeit doch ein Kontinuum.
Wenn Zeit eine »Idee des reinen Verstandes« und die »allgemeine Ordnung der Veränderung« ist, wie Leibniz sie umschrieb, dann können wir Zeit nicht in einer Weise in mathematische Zeitpunkte auflösen, wie dies in der modernen theoretischen Physik vielfach geschieht. Zeit wäre dann per se kontinuierlich. Anders gesagt: Ohne Veränderung verliert der Zeitpunkt jegliche Bedeutung. Jedes noch so kleine Zeitmaß, das Wissenschaftler zur Zeitmessung verwenden, setzt periodische Veränderungen oder zusammenhängende Geschichten nämlich bereits voraus.
Moderne Stringtheoretiker wie Brian Greene argumentieren genau andersherum: »Der Begriff der Veränderung ist ohne Bedeutung in Hinblick auf einen einzelnen Zeitpunkt … denn für Zeitpunkte gilt lediglich, dass sie sind.« Zeitpunkte wären das Rohmaterial der Zeit, sie veränderten sich nicht. »Jeder Augenblick ist. Bei genauerem Hinsehen ähnelt der fließende Strom der Zeit eher einem riesigen Eisblock, in dem jeder Augenblick auf ewig an seinem Platz festgefroren ist.« 183
Greene verschweigt nicht das Unbehagen, das ihn bei einem solchen Verständnis von Zeit nach Feierabend manchmal beschleicht. Ernst Mach sitzt auch ihm mit seinen Worten im Nacken. Mach hatte seinen Kollegen eine Botschaft ganz im leibnizschen Sinn mit auf den Weg gegeben: »Wir sind ganz außerstande, die Veränderungen der Dinge an der Zeit zu messen. Die Zeit ist vielmehr eine Abstraktion, zu der wir durch die Veränderung der Dinge gelangen.«
Daran orientierte sich Einstein. Aber auch er nahm eine Raum-Zeit als abstrakte Punktmenge schon als gegeben hin, um jedem dieser Punkte anschließend eine physikalische Größe zuzuordnen und ein Gravitationsfeld überhaupt erst definieren zu können. 184 Auf dieser Grundlage formulierte Einstein seine wegweisenden physikalischen Gesetze. Obschon man sie feierte, war der Physiker selbst nicht davon überzeugt, dass seine grundlegenden Begriffe einer näheren Prüfung standhalten würden.
Einsteins Gesetze klammern die erlebte Gegenwart notgedrungen aus. Denn als Gesetze sollen sie ihre Gültigkeit immer behalten. »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion«, schrieb Einstein wenige Wochen vor seinem Tod. 185
In der Metaphysik des vielleicht letzten großen Universalgelehrten sind die verschiedenen Aspekte der Zeit, einer subjektiv empfundenen, einer intersubjektiven und einer objektiven, messbaren, astronomischen Zeit, noch unlösbar miteinander verwoben. Leibniz zufolge bezieht sich unser subjektives Zeiterleben immer auch auf die äußere Welt. So bemisst es sich etwa an natürlichen Rhythmen wie dem Tag-und Nachtwechsel,
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