Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)
Relativitätstheorie eine sowohl kausale als auch relationale Theorie – allerdings immer noch nicht in letzter Konsequenz, wie Einstein selbst bedauerte. Leibniz hatte klipp und klar gefordert: »Es gibt keinen Raum, wo es keine Materie gibt.« In Einsteins Theorie verschwindet die Raum-Zeit in einer materiefreien Welt nicht. Sie beinhaltet auch Lösungen für ein materiefreies Universum.
Ob man solche Lösungen der einsteinschen Gleichungen als physikalisch relevant erachtet oder nicht, ist eine andere, bis heute viel diskutierte Frage. Moderne Relationalisten orientieren sich nicht an allen denkbaren Lösungen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Was für sie zählt, sind, wie für Leibniz, die in unserem Universum erkennbaren Strukturen. »Nur solche Lösungen sind philosophisch in Betracht zu ziehen, bei denen die unterstellten Situationsumstände mit den Erfahrungsbedingungen der Welt übereinstimmen«, kommentiert der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier die moderne Debatte.
Ganz anders sehen dies die zeitgenössischen wissenschaftlichen Realisten, die man in dieser Hinsicht als Gefolgsleute Newtons ansehen kann. Für sie bildet die gegenwärtig beste wissenschaftliche Theorie den einzig zulässigen Interpretationsrahmen. Demnach müssten wir uns auf die heute allgemein anerkannte Allgemeine Relativitätstheorie stützen, um etwas über die Beschaffenheit der Raum-Zeit zu erfahren. Sie lässt aber Lösungen zu, »bei denen die geometrischen Strukturen nicht auf die Materieverteilung zurückgeführt werden können«, so Carrier. Aus Sicht der Realisten repräsentieren derartige Strukturen eine moderne »absolute Raum-Zeit«. 178 So gesehen, unterscheiden sich die Argumente heutiger Forscher nur wenig von denen, die wir in der Leibniz-Clarke-Debatte kennengelernt haben.
Einstein selbst empfand es als Mangel, dass die Allgemeine Relativitätstheorie keine konsequent relationale Theorie ist. Seine Erben fragen sich immer noch, wie eine solche Theorie aussehen könnte. Auch die leibnizsche Auffassung von Zeit und Raum stößt 300 Jahre nach dem Tod des Universalgelehrten wieder auf reges Interesse.
Völlig offen bleibt jedoch, wie ein relationales Verständnis von Zeit mit der anderen großen modernen Theorie, der Quantenphysik, in Einklang gebracht werden könnte. Auf den ersten Blick ist das Ergebnis ernüchternd: Anders als die Relativitätstheorie setzt die Quantenphysik die newtonsche externe, »absolute Zeit« voraus. Die beiden grundlegenden Theorien des 20. und 21.Jahrhunderts unterscheiden sich hinsichtlich des dahinterliegenden Verständnisses von Zeit so voneinander wie die leibnizsche von der newtonschen Perspektive. Alle Versuche, sie in einer Quantengravitationstheorie miteinander zu verbinden, sind bisher gescheitert. Und es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne eine vorherige Klärung des Zeitbegriffs gelingen kann. Die Aufarbeitung der Leibniz-Clarke-Kontroverse als physikalische Grundlagendebatte steht immer noch aus.
Nicht von ungefähr nehmen zeitgenössische Physiker wie Carlo Rovelli, Lee Smolin oder Julian Barbour wieder direkt darauf Bezug. Im Computerzeitalter schrecken sie vor der Komplexität einer relationalen Zeittheorie nicht mehr zurück. Bisher versagen relationale Ansätze jedoch, sobald man in den Mikrokosmos und die Quantenwelt vordringt. Wie soll man in einem Mikrosystem den zeitlichen Verlauf eines Geschehens verfolgen und eine interne Systemzeit ausmachen, wenn jeder Messprozess das Quantensystem beeinflusst? Wählt ein Physiker eine beobachtbare Größe in einem solchen System aus, um in Beziehung zu ihr die Veränderung anderer Größen zu betrachten, so muss er stets berücksichtigen, wie sich der Zustand des Systems durch die Beobachtung selbst wandelt. Haben es sich die Väter der Quantentheorie hier womöglich zu leicht gemacht, indem sie schlicht auf ihre Laboruhren als externen Zeitparameter verwiesen?
Eine Beethoven-Symphonie als Luftdruckkurve?
In jeder physikalischen Theorie gibt es Setzungen, die nur durch die Konzeption der Theorie als Ganze zu rechtfertigen sind. Newton fand in der »absoluten Zeit« einen derartigen Begriff, die Quantentheoretiker des 20.Jahrhunderts stützten sich auf eine externe Uhrzeit. Was die klassische Physik und die Quantenmechanik auf Basis eines solchen Zeitbegriffs erreicht haben, ist erstaunlich, aber aus moderner Sichtweise korrekturbedürftig.
Die Komplexität der Natur und unserer selbst geschaffenen Umwelt verlangt uns
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