Leiche in Sicht
Der Pfarrer sagte etwas, aber
Mr. Pringle war zu erregt, um ihn zu verstehen. Er fühlte sich schwindlig,
hoffentlich fiel er nicht um! Unbeweglich starrte er nach vorn, er wollte der
Braut und dem Bräutigam nicht ins Gesicht sehen. Für das Glück dieser beiden
hatte Elizabeth sterben müssen, sagte er sich das eine ums andere Mal. Und Roge
auch. Dabei hätten sie auf seine Erpressung, so erbärmlich sie auch war,
eingehen können. Wenn er nur seinen Laden bekommen hätte, wäre er ruhig
gewesen.
«Und warum nicht?» Die Frage des
Pfarrers hatte ihn endlich erreicht und brachte ihn zurück in die Gegenwart.
«Weil es Mord war», sagte er.
Er war im Zweifel gewesen, was nun
geschehen würde, und hatte sich neulich nachts im Bett mit Mrs. Bignell darüber
unterhalten. «Ich erinnere mich, einmal einen Roman gelesen zu haben, wo jemand
das tat», hatte sie gesagt, «ich meine, eine Hochzeit unterbrechen.»
«Ich auch. Wir müssen den gleichen
Roman gelesen haben. Jane Eyre .»
«Und was geschah dann?»
«Die Hochzeit fand erst ungefähr
vierzig Kapitel später statt, nachdem die Ehefrau über die Zinnen in den
Abgrund gesprungen und Mr. Rochester halb erblindet war...»
«Nein, ich meine, was passierte mit dem
Mann, der die Hochzeit unterbrochen hat?»
«Oh, ich glaube, er kam mit dem Leben
davon. Aber es waren auch nur ungefähr ein halbes Dutzend Leute in der Kirche.»
Doch irgendwo in seinem Gedächtnis regte sich eine unangenehme Erinnerung an
ein Messer und das Stillen von Blut. In diesem Moment trat der Vater der Braut
an ihn heran, packte ihn mit beiden Fäusten und begann ihn zu schütteln, als
wollte er ihm jeden Knochen einzeln brechen. Verzweifelt bat der Pfarrer, doch
zu bedenken, daß sie sich in einem Gotteshaus befänden.
Mr. Fairchild brüllte Unverständliches.
Hinter ihrem Vater sah er für einen Moment das Gesicht der Brautjungfer
auftauchen — bleich wie Renées Foto. Der Ausdruck offenen Entsetzens war das
letzte Stückchen Information, das ihm noch gefehlt hatte. Es wurde Zeit, daß er
alles erklärte. Es gelang ihm, sich von Mr. Fairchild zu befreien. Während er
die ersten Worte sprach, wurden die Anwesenden hinter ihm plötzlich still, sie
wollten nichts versäumen.
«Der Grund, warum diese Hochzeit nicht
stattfinden kann, ist, daß nach dem Gesetz eine Ehefrau nicht gezwungen werden
kann, als Zeugin gegen ihren Mann aufzutreten, genau wie umgekehrt ein Ehemann
nicht gezwungen werden kann, gegen seine Frau auszusagen. Diese beiden hier
dürfen nicht in den Stand versetzt werden, sich auf diese Weise gegenseitig zu
schützen, denn sie sind beide schuldig.»
Neben ihm begann Matthew zu flüstern.
«Ich habe sie nicht getötet, ich habe sie nicht getötet!» Das Flüstern schwoll
an zu einem Schrei, der die Kirche füllte. Die Hochzeitsgäste wiederholten
schaudernd: «Getötet?»
«Nein, ich glaube dir, daß du es nicht
getan hast.» Mr. Pringle wandte sich von seinem Neffen ab und der Braut zu.
«Elizabeth haben Sie auf dem Gewissen, nicht wahr? Aber mit der Leiche im
Schlepp zum Fuß der Klippen schwimmen, das müßt ihr wohl beide gemeinsam getan
haben?»
«Nein!» Er kannte diese Stimme seit
seiner Kindheit, doch noch nie war sie so von Kummer und Schmerz erfüllt
gewesen: «Nein, Matthew, sag ihm, daß das nicht wahr ist!» Enid drängte die
Brautjungfer rücksichtslos beiseite und trat neben ihren Sohn. «Du hattest nichts
damit zu tun.» Matthew wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen, doch seine
Braut zischte ihm zu: «Halt den Mund!» Matthew duckte sich wie unter einem
Peitschenhieb.
Das Schwerste hatte er hinter sich,
dachte Mr. Pringle, nun blieb nur noch ein Schritt zu tun, dann war es
geschafft. Er trat zwischen Braut und Bräutigam, so daß Matthew sich nicht
länger von Emma würde führen lassen können, und sagte: «Aber für den Mord an
Roge Harper bist du verantwortlich, nicht wahr? Du und ich, wir beide waren die
einzigen, denen er es gesagt hat.»
Seine innere Anspannung ließ ihn jede
kleinste Bewegung so deutlich wahrnehmen, als liefe sie in Zeitlupe ab. Er
wußte, daß er mit seiner Frage jede Hoffnung, die Matthew noch gehabt haben
mochte, zerstört hatte. Sein Neffe war von einem anderen, einem stärkeren
Willen, als er ihn selbst besaß, angetrieben worden, doch nun stand er
unversehens allein und wurde von den versammelten Gästen mit seiner Tat
konfrontiert. Mr. Pringle sah, wie sich das Gesicht vor ihm in eine Maske des
Hasses verwandelte, dann
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