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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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waren.
    «Tom, vielleicht ist das doch keine gute Idee. Ich warte lieber im Wagen.»
    Er lächelte. «Vergiss Hicks. Er arbeitet im Leichenschauhaus der Uniklinik, deshalb kommen wir uns manchmal in die Quere.
     Er hasst es, dass er sich uns in solchen Situationen unterordnen muss. Teilweise aus Neid auf unseren Job, aber hauptsächlich
     einfach deshalb, weil der Mann ein Arschloch ist.»
    Obwohl mir klar war, dass er mich beruhigen wollte, fühlte ich mich nicht besser. Ich kannte die Situation an Tatorten, aber
     mir war deutlich bewusst, hier fehl am Platz zu sein.
    «Ich weiß nicht   …», begann ich.
    «Es ist kein Problem, David. Du tust mir einen Gefallen, wirklich.»
    Ich beließ es dabei, aber meine Zweifel blieben. Eigentlich hätte ich Tom dankbar sein sollen. Nur wenige britische Forensiker
     erhielten jemals die Gelegenheit, an einer Mordermittlung in den Staaten mitzuarbeiten. Doch aus irgendeinem Grund war ich
     nervöser denn je. Es lag auch nicht an Hicks’ Feindseligkeit, da hatte ich schon wesentlich Schlimmeres erlebt. Nein, es lag
     allein an mir. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ich offenbar zu allem Überfluss auch noch mein Selbstvertrauen verloren.
    Komm schon, reiß dich zusammen. Du darfst Tom nicht
enttäuschen.
    |32| Gardner kam zu uns, als wir gerade die Plastikbeutel mit den Overalls aufrissen.
    «Ihr solltet euch darunter besser bis auf die Unterhose ausziehen. In der Hütte ist es tierisch heiß.»
    Tom schnaubte. «Seit ich in der Schule war, habe ich mich nicht mehr in der Öffentlichkeit ausgezogen. Und jetzt werde ich
     nicht wieder damit anfangen.»
    Gardner schlug nach einem Insekt, das um sein Gesicht herumschwirrte. «Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.»
    Ich teilte Toms Schamgefühl nicht, folgte aber dennoch seinem Beispiel. Mir war schon unbehaglich genug, ohne dass ich mich
     bis auf die Boxershorts auszog. Außerdem war erst Frühling, und die Sonne begann bereits unterzugehen. Wie heiß konnte es
     in der Hütte schon sein?
    Gardner wühlte durch die Kartons, bis er ein Glas mit Mentholsalbe gefunden hatte. Nachdem er sich einen dicken Streifen unter
     die Nase geschmiert hatte, bot er sie Tom an.
    «Die wirst du brauchen.»
    Tom lehnte ab. «Nein danke. Mein Geruchssinn ist nicht mehr das, was er einmal war.»
    Gardner reichte das Glas schweigend an mich weiter. Normalerweise verwendete ich auch keine Mentholsalbe. Wie Tom war mir
     der Geruch der Verwesung nicht fremd, und nach der letzten Woche auf der Body Farm hatte ich mich wieder voll und ganz daran
     gewöhnt. Trotzdem nahm ich das Glas und schmierte mir die parfümierte Salbe über die Oberlippe. Durch den stechenden Geruch
     tränten mir sofort die Augen. Ich holte tief Luft und versuchte, meine blankliegenden Nerven zu beruhigen.
Was ist nur los mit dir? Du
benimmst dich, als wäre das dein erstes Mal.
    Die Sonne schien mir warm auf den Rücken, während ich darauf wartete, dass Tom fertig wurde. Sie stand bereits tief |33| über den Baumkronen, blendete und sank langsam in Richtung Abend. Und morgen würde sie wieder aufgehen, egal, was hier passierte,
     sagte ich mir.
    Tom zog den Reißverschluss seines Overalls zu und setzte ein vergnügtes Lächeln auf. «Dann schauen wir mal, was wir haben.»
    Wir streiften uns die Latexhandschuhe über und folgten dem überwucherten Pfad zur Hütte.

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    |34| KAPITEL 3
    Die Tür der Hütte war verschlossen. Gardner blieb davor stehen. Er hatte sein Jackett auf dem Klapptisch liegengelassen und
     Plastikhandschuhe und -überschuhe angezogen. Nun setzte er eine weiße Operationsmaske auf. Ich sah ihn tief Luft holen, bevor
     er die Tür öffnete und wir hineingingen.
    Ich hatte Leichen in allen möglichen Zuständen gesehen. Ich wusste, wie furchtbar die verschiedenen Stadien der Verwesung
     rochen, und konnte sie sogar am Geruch unterscheiden. Ich hatte Leichen vorgefunden, die bis auf die Knochen verbrannt waren
     oder nach Wochen unter Wasser nur noch aus suppigem Schleim bestanden hatten. Keiner dieser Anblicke war angenehm, aber das
     gehörte zu meiner Arbeit, und ich dachte, ich hätte mich daran gewöhnt.
    Doch so etwas hatte ich noch nie erlebt. Der ekelig süße, an verdorbenen Käse erinnernde Gestank des verwesten Fleisches war
     beinahe greifbar. Er schien destilliert und konzentriert worden zu sein und drang durch den Mentholdunst unter meiner Nase,
     als hätte ich die Salbe gar nicht aufgetragen. In der Hütte wimmelte es von

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