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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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diese drei einer Welt entstammten, zu der er keinen Zugang hatte.
    Wendell richtete sich plötzlich auf und spähte hinaus in den Regen. »Das ist doch deine Kutsche, nicht wahr, Edward?«
    »Wurde aber auch allerhöchste Zeit.« Edward klappte den Kragen hoch, um sich vor dem Wind zu schützen. »Gehen wir, meine Herren?«
    Norris’ drei Kommilitonen eilten die Verandastufen hinunter. Edward und Charles patschten über das nasse Pflaster und kletterten in die Kutsche. Doch Wendell zögerte und blickte
sich zu Norris um. Dann machte er kehrt und kam wieder die Stufen herauf.
    »Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?«, fragte Wendell.
    Norris war so verblüfft über die Einladung, dass er nicht sofort antwortete. Obwohl er fast einen ganzen Kopf größer war als Wendell Holmes, gab es doch so manches, was ihn an diesem zierlichen Mann einschüchterte. Und es waren nicht nur Wendells elegante Anzüge oder seine berühmte Schlagfertigkeit, es war auch seine scheinbar unerschütterliche Selbstsicherheit. Dass dieser Mann ihn einlud, sich ihnen anzuschließen, darauf war Norris nicht vorbereitet gewesen.
    »Wendell!«, rief Edward aus dem Kutschenfenster. »Wir fahren!«
    »Wir gehen in den Hurricane«, sagte Holmes. »Da zieht es uns abends regelmäßig hin.« Er hielt inne. »Oder hast du schon etwas anderes vor?«
    »Das ist wirklich sehr freundlich.« Norris’ Blick ging zu den beiden Männern, die in der Kutsche warteten. »Aber ich glaube nicht, dass Mr. Kingston einen vierten Gast erwartet hat.«
    »Mr. Kingston«, erwiderte Wendell lachend, »täte es ganz gut, wenn ihm öfter einmal etwas Unerwartetes widerführe. Aber es ist ja auch nicht er, der sie einlädt. Sondern ich. Also, kommst du nun mit auf eine Runde Rum-Flip?«
    Norris sah hinaus in den Regen, der immer noch in Strömen fiel, und dachte sehnsüchtig an das wärmende Feuer, das im Hurricane gewiss brennen würde. Und noch mehr lockte ihn die Gelegenheit, die ihm soeben eröffnet worden war – die Chance, in den Kreis seiner Kommilitonen aufgenommen zu werden, einer von ihnen zu sein, und sei es auch nur für diesen Abend. Er spürte, wie Wendell ihn beobachtete. Diese Augen, in denen sonst der Schalk zu blitzen pflegte, hinter denen immer schon die nächste geistreiche Bemerkung zu lauern schien, diese Augen hatten plötzlich etwas unangenehm Durchdringendes.
    »Wendell!« Jetzt war es Charles, der von der Kutsche aus
rief, die Stimme zu einem ungehaltenen Quäken erhoben. »Wir erfrieren hier noch!«
    »Es tut mir leid«, sagte Norris. »Ich fürchte, ich bin heute Abend schon anderweitig verpflichtet.«
    »Oh?« Wendell zog eine Braue hoch und musterte ihn schelmisch. »Es handelt sich gewiss um eine ganz reizende Alternative.«
    »Es ist keine Dame, fürchte ich. Aber es ist eine Verpflichtung, der ich mich unmöglich entziehen kann.«
    »Verstehe«, sagte Wendell, auch wenn er ganz offensichtlich nicht verstand, denn sein Lächeln war abgekühlt, und er wandte sich bereits zum Gehen.
    »Es ist nicht so, als würde ich nicht gerne …«
    »Ist schon in Ordnung. Ein andermal vielleicht.«
    Es wird kein anderes Mal geben, dachte Norris. Er sah Wendell nach, wie er eilig über die Straße lief und zu seinen beiden Gefährten in die Kutsche stieg. Der Kutscher ließ die Peitsche schnalzen, und sie fuhren los. Wasser spritzte auf, als die Räder durch die Pfützen rollten. Norris malte sich die Unterhaltung aus, die sich bald unter den drei Freunden in dieser Kutsche entspinnen würde. Ungläubiges Staunen darüber, dass ein einfacher Farmersbursche aus Belmont es gewagt hatte, die Einladung auszuschlagen. Spekulationen darüber, was das für eine Verpflichtung sein mochte, die so wichtig war, dass er ihr den Vorzug gab – wenn nicht eine Verabredung mit einer Vertreterin des schönen Geschlechts. Norris stand auf der Veranda, die Finger um das Geländer gekrampft, voll Bitterkeit über all das, was er nicht ändern konnte, über all das, was ihm für immer verwehrt bleiben würde.
    Edward Kingstons Kutsche verschwand um die Ecke, mit den drei Männern, auf die ein warmes Feuer und ein geselliger Abend mit angeregten Gesprächen und geistigen Getränken warteten. Während sie in der warmen Stube des Hurricane sitzen, dachte Norris, werde ich einer gänzlich anderen Beschäftigung nachgehen. Einer Beschäftigung, auf die ich liebend gerne verzichten würde, wenn ich nur könnte.

    Er gab sich einen Ruck und trat hinaus in die Kälte und den

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