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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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gehört, dass hier jemand kurz davor ist, den Geist aufzugeben.«
    Norris machte sich ebenfalls an die Arbeit. Obwohl es eine frische Grabstelle war und die Erde sich noch nicht gesetzt hatte, war der Boden nass und schwer. Nachdem er ein paar Minuten gegraben hatte, spürte er die Kälte schon nicht mehr.
    »Wenn jemand im Sterben liegt, reden die Leute drüber«, stieß Jack ächzend hervor. »Halt die Ohren offen, und du kriegst mit, wer mit einem Bein im Grab steht. Sie bestellen Särge, kaufen Blumen.« Jack warf noch eine Schaufel voll
beiseite und hielt keuchend inne. »Der Trick besteht darin, sie nicht merken zu lassen, dass du interessiert bist. Sobald einer Verdacht schöpft, gibt’s Schwierigkeiten.« Er machte sich wieder ans Graben, jedoch langsamer als zuvor. Norris übernahm den Löwenanteil; tiefer und tiefer bohrte sich seine Schaufel in den schmatzenden Lehm. Es regnete immer noch; das Wasser sammelte sich in dem Loch, und Norris’ Hosen waren schon bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt. Bald stellte Jack das Graben ganz ein und kletterte aus dem Loch, um sich an den Rand zu setzen. Sein Atem ging jetzt so laut und pfeifend, dass Norris aufschaute, um sich zu vergewissern, dass der Mann nicht kurz vor dem Kollaps stand. Das war der einzige Grund, weshalb der alte Geizkragen bereit war, auch nur einen Penny von seinen Einnahmen mit einem anderen zu teilen; der einzige Grund, weshalb er einen Helfer mitgenommen hatte: Er schaffte es einfach nicht mehr allein. Er wusste, wo die Schätze vergraben waren, aber er brauchte das Kreuz eines jungen Mannes, die Muskeln eines jungen Mannes, um sie zu heben. Und so hockte Jack da und sah zu, wie sein Gehilfe sich abmühte und das Loch tiefer und tiefer wurde.
    Norris’ Schaufel stieß auf Holz.
    »Wurde aber auch Zeit«, brummte Jack. Unter dem Schutz der Plane zündete er die Laterne an, griff nach der Schaufel und ließ sich zu Norris in die Grube gleiten. Die Männer kratzten die Erde vom Sargdeckel, Schulter an Schulter in dem engen Erdloch, und Norris musste würgen, als ihm Jacks stinkender Atem in die Nase stieg, ein widerlicher Brodem von Tabaksdünsten und faulen Zähnen. Nicht einmal diese Leiche kann so widerlich riechen, dachte er. Nach und nach entfernten sie die ganze Erde und legten das Kopfende des Sargs frei.
    Jack klemmte zwei Eisenhaken unter den Deckel und drückte Norris eines der Seile in die Hand. Sie stiegen aus der Grube und zogen mit vereinten Kräften, legten sich ächzend ins Zeug, bis die Nägel quietschten und das Holz knarrte.
    Plötzlich splitterte der Deckel, das Seil wurde schlaff, und Norris fiel hinterrücks zu Boden.
    »Gut! Das reicht schon!«, sagte Jack. Er senkte die Laterne in die Grube und warf einen Blick auf den Körper im Sarg.
    Durch den zersplitterten Sargdeckel konnten sie sehen, dass es sich um die Leiche einer Frau handelte. Ihre Haut war bleich wie Wachs, und goldene Locken umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Auf ihrer Brust lag ein vertrockneter Blumenstrauß, dessen Blüten schon im prasselnden Regen zerfielen. So schön, dachte Norris. Ein Engel, allzu früh in den Himmel abberufen.
    »Frischer geht’s kaum«, meinte Jack befriedigt und ließ ein gackerndes Lachen hören. Er steckte beide Hände durch den zerbrochenen Deckel und schob sie unter die Arme des Mädchens. Sie war so leicht, dass er sie ohne Hilfe aus dem Sarg zerren konnte. Doch er keuchte schwer, als er sie aus dem Grab hob und auf die Plane legte. »Na los, ziehen wir sie aus.«
    Übelkeit erfasste Norris. Er rührte sich nicht vom Fleck.
    »Was denn? So ein hübsches Mädchen, und du magst sie gar nicht anfassen?«
    Norris schüttelte den Kopf. »Sie hat Besseres verdient.«
    »Mit dem Letzten, den wir ausgebuddelt haben, hattest du keine Probleme.«
    »Das war ja auch ein alter Mann.«
    »Und das da ist ein Mädchen. Was ist der Unterschied?«
    »Sie wissen genau, was der Unterschied ist!«
    »Alles, was ich weiß, ist, dass sie den gleichen Preis erzielen wird. Und dass es wesentlich mehr Spaß machen wird, sie auszuziehen.« Mit einem leisen Kichern der Vorfreude zog er ein Messer aus der Tasche. Da er weder die Zeit noch die Geduld hatte, sich mit Knöpfen und Haken abzumühen, schob er einfach die Klinge unter den Halsausschnitt des Kleides der Toten und schlitzte den Stoff von oben nach unten auf. Darunter kam ein hauchdünnes Unterkleid zum Vorschein. Jack arbeitete jetzt mit sichtlicher Begeisterung. Nachdem er den Unterrock

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